Podiumsdiskussion, Trafo Jena
26. August 2021
Veranstaltet von Dr. Christian Faludi (als Ausstellungskurator für das Stadtmuseum Jena); in Kooperation mit der Gesellschaft zur Erforschung der Demokratiegeschichte (GEDG), der Forschungsstelle Weimarer Republik der Universität Jena, dem Kunstfest Weimar; gefördert von JenaKultur, im Rahmen der Initiative »Kein Schlussstrich! Jena und der NSU-Komplex«. Mit Prof. Dr. Martin Sabrow (Direktor Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam), Dr. Susanne Kaiser (Politische Beraterin, Journalistin) und Dr. Christian Faludi (assoziierter Wissenschaftler an der Forschungsstelle Weimarer Republik, Projektleiter GEDG), moderiert von Dr. Andreas Braune (stellv. Leiter Forschungsstelle Weimarer Republik).
Spätestens seit der Ermordung des Kasseler CDU-Politikers Walter Lübcke durch den Rechtsextremisten Stephan Ernst im Juni 2019 ist in Deutschland die Sorge vor den sogenannten Weimarer Verhältnissen virulent. Und wenngleich sich die Bundesrepublik zu keinem Zeitpunkt ihrer Geschichte auch nur annähernd derselben verheerenden Angriffe erwehren musste, wie sie in den Krisenzeiten zwischen 1918 und 1933 vorherrschend waren, ist es tatsächlich kaum von der Hand zu weisen, dass der Rechtsextremismus seit den neunziger Jahren in erschreckendem Maße neu erstarkt ist. Neben dem oben genannten Mord – und die Liste könnte mit etlichen Fällen voller Gewalt fortgesetzt werden – ragen insbesondere die von 1998 bis 2011 verübten Taten des »Nationalsozialistischen Untergrunds/NSU« heraus. Zehn Jahre nach dessen Selbstenttarnung versuchte eine Initiative in der Heimatstadt der Täter unter dem Titel »Kein Schlussstrich! Jena und der NSU-Komplex« historische Wurzeln des Geschehens zu ergründen. Insgesamt fanden mehr als 70 Veranstaltungen statt. Zum Prolog gehörte unter anderem die von der GEDG begleitete Podiumsdiskussion »100 Jahre politischer Mord« am 26. August 2021 im Jenaer Trafo.
Die Rahmenveranstaltung zur von Christian Faludi kuratierten Sonderausstellung »Gegenrevolution 1920« im Stadtmuseum Jena nahm sich der Ereignisgeschichte im unmittelbaren Nachgang des gescheiterten Kapp-Lüttwitz-Putsches an, in dessen Folge rechtsextreme Staatsfeinde erstmals versuchten, mittels politischer Morde aus dem Untergrund die Grundfesten der Demokratie zu erschüttern. Zugleich schlugen die Diskutierenden den Bogen in die Gegenwart, indem sie sich darüber austauschten, inwiefern die terroristischen Anschläge ab den Jahren 1921 (Matthias Erzberger) und 1922 (Philipp Scheidemann, Walther Rathenau) mit denen der jüngeren Vergangenheit in Beziehung stehen. Den Einführungsvortrag hielt der Potsdamer Historiker Martin Sabrow vom Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung. Mit ihm auf dem Podium saßen Susanne Kaiser, die jüngst zum Zusammenhang zwischen Rechtsterrorismus und »Politischer Männlichkeit« forschte, sowie Christian Faludi. Moderiert wurde der Abend von Andreas Braune von der Forschungsstelle Weimarer Republik an der FSU Jena. Der Vortrag sowie Teile der Diskussion sind auf den folgenden Seiten dokumentiert.
Einführungsvortrag von Prof. Dr. Martin Sabrow: 100 Jahre politischer Mord – die gegenrevolutionäre Destabilisierung der frühen Weimarer Republik und die Beziehungen zwischen damaliger und heutiger Gewalt
Hundert Jahre politischer Mord ist das Thema und ich bin gebeten worden, über die gegenrevolutionäre Destabilisierung der frühen Weimarer Republik zu sprechen und über die Beziehung zwischen der damaligen Gewalt und der heutigen. Anlass unserer Zusammenkunft ist der Umstand, ich möchte es jetzt auch gerne einmal gesagt haben, dass genau heute vor 100 Jahren der frühere Reichsfinanzminister Matthias Erzberger, in einem einsamen Waldstück am Kniebis im Schwarzwald den Kugeln zweier Attentäter erlag, die ihn über Tage hinweg ausgespäht und an diesem Vormittag auf seinem Spaziergang zum Schwarzwaldhof verfolgten. Allerdings markierte sein Tod am 26. August 1921 nicht den Beginn des Rechtsterrorismus und deswegen ist auch das Wort »100 Jahre politischer Mord«, diese schöne Analogie oder diese schaurige Analogie, nicht ganz ohne. Denn Attentate gegen prominente republikanische Politiker begleiteten die Gründung der Weimarer Republik von Anfang an und ich lasse jetzt sogar den Mord an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht in den Revolutionswirren aus. Am 21. Februar 1919 wurde der bayerische Ministerpräsident Kurt Eisner in München auf dem Weg zur konstituierenden Landratssitzung, auf der er seinen Rücktritt verkünden wollte, von einem bayerischen Offizierssohn Anton Graf von Arco auf Valley, ermordet, der zuvor aus antisemitischen Gründen aus der antisemitischen Thule-Gesellschaft ausgeschlossen worden war. Am 9. Juni 1921 wurde der bayerische USPD-Abgeordnete Karl Gareis nach einem Vortrag in München vor seinem Haus von einem Unbekannten durch einen Kopfschuss tödlich verletzt. Am 7. November 1919 erlag der USPD-Fraktionsvorsitzende Hugo Haase den Folgen eines wenige Wochen vorher auf ihn verübten Attentats, dessen Schuldige nie gefunden wurden.
Politikerattentate waren auch nur die eine Seite des Weimarer Rechtsterrorismus. Eine andere bildeten die vielen Tötungsdelikte der Revolutionszeit, die von Freikorpsangehörigen gegen ihre Feinde begangen wurden, insbesondere die Ermordung von Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht am 15. Januar 1919 sind zu nennen, aber auch die Exzess-Taten gegen revolutionäre Freikorpssoldaten im Zuge der Niederwerfung der Räterepubliken am Reich und namentlich bei der Eroberung Münchens etwa mit dem Münchner Gesellenmord oder der Ermordung Gustav Landauers besonders viel. Und später in den Baltikumskämpfen. Eine dritte Seite dieses Rechtsterrorismus bilden die zahlreichen Fememorde, die rechtsradikale Täter gegen vermeintliche Verräter und Abtrünnige verübten. Die Blutspur dieser besonders in Pommern und Bayern grassierenden Mordtaten zieht sich von der Erdrosselung eines Münchner Dienstmädchens Maria Sandmeyr am 6. Oktober 1920, das des Verrats eines illegalen Waffenverstecks an die Alliierten beschuldigt wurde, bis zur Ermordung des pfälzischen Separatistenführers Franz Joseph Heinz, genannt Heinz-Orbis, am 9. Januar 1924 im Speisesaal des Speicherhotels Wittelsbacher Hof. Julius Gumpel hat, wir haben seinen Namen soeben schon gehört, in seiner berühmten Übersicht, die nun tatsächlich den Schulunterricht seit Jahrzehnten beherrscht, als Skizze in seiner Zeitschrift »Vier Jahre politischer Mord«, in den Jahren 1919 bis 1922 354 politisch motivierte Morde aus dem rechten Spektrum 22 Morde aus dem linken gegenübergestellt.
Jetzt zum Erzbergermord. In dieser Blutspur des Weimarer Rechtsterrorismus nimmt der Erzbergermord eine Sonderstellung ein, dessen Ablauf ich hier nicht weiter schildern muss, meine ich, damit das hier nicht zu sehr ausufert. Erzbergers Mörder [CF4] [KV5] Heinrich Tillessen und Heinrich Schulz entkamen mithilfe der bayerischen Polizei nach Ungarn und immigrierten weiter später nach Spanien bzw. nach Afrika, und blieben bis zur Jahreswende 1932/33 unbehelligt im Exil, um erst nach dem Zweiten Weltkrieg in Offenburg vor Gericht gestellt zu werden, um dann zwei Mal frei gesprochen zu werden wegen der Reichspräsidentenamnestie vom Oberlandesgericht Offenburg, um dann erst vor dem Tribunal in Rastatt zu 15 bzw. 13 Jahren Zuchthaus verurteilt zu werden. Und sie wurden 1952 erst freigelassen, dann amnestiert. Anders als viele andere politische Kapitalverbrechen stellte der Erzbergermord keine situative Gewaltentladung dar und keine isolierte Einzeltat, sondern entsprang einem vorbereiten Plan, es gehörte dieses Attentat nämlich zu einer Serie gleichgerichteter Anschläge, die nach Erzberger 1922 Philipp Scheidemann in Kassel trafen und am Johannistag desselben Jahres, das ist der 24. Juni 1922, Walther Rathenau in Berlin. All diese Attentate, diese drei Attentate, waren Teil der Putschstrategie einer weit verzweigten Geheimorganisation, die von ihrer Münchener Zentrale aus den Sturz der Reichsregierung zu organisieren versuchte. Der Kopf dieser „Consul“ genannten Geheimorganisation war der im April 1920 nach Bayern ausgewichene und für die Reichsbehörden untergetauchte Freikorpsführer Hermann Erhardt, der mit Hilfe eines nach ihm benannten Freiwilligenverbandes erst im Auftrag der Reichsregierung, während der ersten Jahreshälfte 1919 gegen die Rätebewegung in Berlin und im Reich vorgegangen war und dann im März 1920 die militärische Absicherung des Gegenrevolutionären Kapp-Lüttwitz-Putsches in Berlin übernommen hatte. Das Scheitern dieses Putschversuches hatte den militanten Gegenrevolutionären um Ehrhardt gezeigt, dass eine Zerschlagung des Weimarer Systems ohne den Beistand der Reichswehr oder gar gegen sie aussichtslos sei.
Die Reichswehr, die während des Kapp-Lüttwitz-Putsches Neutralität wahrte, fühlte sich auch unter Hans von Seeckt einer abstrakten Staatsidee verpflichtet, die zu jeder Regierungsform, das heißt auch zur bestehenden Republik gleiche Distanz wahrte. Er hatte aber auch klar gemacht, dass seine Truppe gegen jede gewaltsame Absetzung der verfassungsmäßigen Regierungsform vorgehen würde, gleichviel ob die Herausforderung von links oder von rechts komme. Da die Kräfte, über die Ehrhardt verfügte, für einen frontalen Angriff auf die Republik bei weitem zu schwach waren, konnte der gegenrevolutionäre Staatsstreich nur bei indirektem Vorgehen Aussicht auf Erfolg haben. Nämlich im Gefolge einer vorgeblichen Verteidigung der Reichsregierung gegen einen gemeinsamen Feind. Es kam daher entscheidend darauf an, das Gewaltpotenzial der Linken in Deutschland zu einem bewaffneten Aufstand zu reizen, um dann unter Zustimmung großer Teile des die Bolschewisierung fürchtenden Bürgertums und zusammen mit der Reichswehr durchzusetzen, was durch die Freikorpskämpfer 1920 und 1919 versäumt worden war: die Zerschlagung der Weimarer Republik und die Errichtung der Diktatur von rechts. Und deswegen gehört der Erzbergermord in eine ganze Serie gegenrevolutionärerer Taten, die sich von 1919 bis zum Hitler-Ludendorff-Putsch 1923 hinzieht.
Wie sich in der polizeilichen Ermittlungsarbeit nach dem Erzbergermord zeigte, hatte die OC, die Organisation Consul, im Zuge ihrer militärischen Sammlungsbewegung ein sich über ganz Deutschland erstreckendes Netz von Bezirksorganisationen gespannt, die von der Zentrale kontrolliert und geführt wurden. Die in sieben Oberbezirke zusammengefassten Bezirke waren in Ortsgruppen gegliedert, denen Unterführer oder Vertrauensleute vorstanden. Ihre Anweisungen bekamen sie von den ihnen vorgesetzten Leitern der Münchner Zentrale, um sich auf Befehl dieser Zentrale innerhalb von 24 Stunden einsatzbereit zu halten. Was Erhardt auf diese Weise von der Ordnungszelle Bayern aus und durch Duldung der Behörden und mit finanzieller Förderung aus Unternehmerkreisen geschaffen hatte, war eine veritable Schläferarmee, eine Schläferarmee im Untergrund, die mindestens 5.000, vielleicht sogar 25.000 besoldete Brigadeangehörige umfasste, die Pension übrigens bis in die Zeit der Bundesrepublik beziehen konnten, und darüber hinaus bis zu 100.000 Mitglieder von Wehrverbänden und Zeitfreiwilligenorganisation, die sich Ehrhardt unterstellt hatten. 125.000 Mann innerhalb von 24 Stunden zu mobilisieren – was für eine Geheimarmee! In seiner polizeilichen Vernehmung hatte ein auskunftsfreudiger Ortsleiter der OC diese Strategie im Herbst 1921 ganz unbefangen ausgeplaudert. Ich zitiere ihn: »Die Initiative für einen Rechtsputsch wird verworfen oder aber nur dann ergriffen werden, wenn mit 99 Prozent ein gesicherter Erfolg vorauszusehen ist. Die Führer, also Hermann Ehrhardt, Manfred von Killinger haben erklärt, einen Misserfolg wie in den Kapp-Tagen, kein zweites Mal erleben zu wollen. Darum soll die Gelegenheit eines Linksputsches abgewartet werden und ergriffen werden.« Diese Überlegung bildete den Kern der sogenannten Provokationsstrategie, die ein Mitverschwörer der Attentate auf Scheidemann und Rathenau in einer späteren Veröffentlichung am Ende der Weimarer Republik so ausdrückte: »Wir dürfen nicht zuerst losschlagen, die Kommunisten müssen es tun. Man muss sie dazu zwingen, man muss Scheidemann, Rathenau, Zeigner, Lipinski, Ebert und die ganzen Novembermänner hintereinander killen, da wollen wir doch mal sehen, ob sie nicht hoch gehen die Rote Armee, die USPD, die KPD.« In einer späteren Darstellung präzisierte derselbe Autor die taktische Funktion noch, die der politische Mord in diesem Szenario hatte: »Es handelt sich um die machiavellistische Utopie, durch die Attentate die Kommunisten zum Losschlagen bewegen zu wollen, damit im Gegenschlag der schnell aufgestellten Freikorps Erhardt die Macht an sich reißen und die Diktatur verhängen könne.«
Soweit zum Kontext des Erzberger Mordes, der sich in diesem dem Rathenaumord annähert. Die Ermordung des früheren Reichsfinanzministers traf zugleich einen Mann, der zu den profiliertesten Repräsentanten des Weimarer Staates zählte und gleichzeitig zur Verkörperung eines neuen Politikertypus des demokratischen Zeitalters, nämlich eine Zielscheibe des Spotts und der Verachtung der bisherigen Eliten darstellte. Erzberger hatte sich aus einfachen Verhältnissen als Journalist und Berufspolitiker hochgearbeitet und galt in seiner Umtriebigkeit als geschäftig. Während des Ersten Weltkrieges vom Propagandisten des Siegfriedens zum Vorkämpfer der Verständiger gewandelt, war der Zentrumspolitiker Erzberger, dessen Unterschrift unter der Kapitulation stand, schon lange einer der meistgehassten, der bestgehassten deutschen Politiker geworden, bevor er als Reichsfinanzminister eine ebenso grundlegende wie unpopuläre Steuerreform durchsetzte und die von Karl Helfferich, seinem Gegenspieler, geführte Rechtsopposition, hatte ihn mit einer erbarmungslosen Hetzkampagne überzogen. Der von Helfferich geprägte Schlachtruf »Fort mit Erzberger!« zielte auf die Republik selbst und machte den katholischen Berufspolitiker zur Zielscheibe eines wahren Trommelfeuers von Angriffen, deren Maßlosigkeit schlechterdings nicht zu überbieten war. Zeitungen der radikalen Rechten, wie der Miesbacher Anzeiger, beschimpften Erzberger als »Schurken« und »feist gefressenen Lump«, das »Urbild schmutziger Käuflichkeit«. Deutschnationale Reichstagskollegen brandmarkten ihn öffentlich im Parlament als »unseligsten Menschen« und als »fleischgewordene Sünde, die der Zorn Gottes dem deutschen Volk als Zuchtrute auf den Leib gebunden« habe. Der demagogische Feldzug hatte Erfolg. Erzberger wurde im März 1920 in einem von ihm selbst angestrengten Gerichtsverfahren gegen Helfferich der Verquickung persönlicher Geldinteressen und Politik für überführt befunden und er trat sofort von seinem Amt als Finanzminister zurück, nachdem das Gericht die Anschuldigungen seines deutschnationalen Widersachers nur mit einer lächerlich geringen Geldstrafe geahndet hatte. Doch gelang es Erzberger in der Folgezeit, den auf ihn lastenden Verdacht der Steuerhinterziehung und des Meineides restlos zu entkräften, ein Verdacht, der entstand, weil hilfsbereite Finanzbeamte den Rechten die Charlottenburger Steuererklärungen Erzbergers zugespielt hatten. Trotz der hasserfüllten Feindschaft, die ihm in Deutschland entgegenschlug, war er gewillt, 1921 in die Politik zurückzukehren, sein Tod verhinderte das. Der Mordanschlag, der ihn an der Umsetzung dieser Absicht hinderte, kam nicht überraschend. In Wirtshausparolen galt es als eine Schande und eine Schmach für Deutschland. Ich zitiere: »Dass ein solcher Kerl noch immer nicht weggeschafft« sei. Von der Polizei war Erzberger gewarnt worden, dass die Gefahr für ihn steige, je näher seine Rückkehr in die Politik bevorstünde. Im Mai 1920 wurde eine Handgranate in einer Wahlversammlung auf ihn geworfen und schon am Anfang desselben Jahres war er bei einem Pistolenattentat erheblich verletzt worden, welches ein 20-jähriger Fähnrich namens Oltwig von Hirschfeld während des Beleidigungsprozesses auf ihn verübt hatte. Der wegen versuchten Mordes angeklagte Attentäter versicherte glaubhaft, in niemandes Auftrag gehandelt zu haben, sondern nach der Lektüre von Helfferichs Broschüre »Fort mit Erzberger!« seinen Entschluss zur Tat gefasst zu haben, weil er meinte, Helfferichs Aufforderung, Erzberger zu entfernen, müsse wörtlich genommen werden. Hirschfeld genoss die kaum verhohlene Sympathie des Gerichts und wurde lediglich wegen Körperverletzung unter Zubilligung mildernder Umstände zu einer Gefängnisstrafe von 18 Monaten verurteilt, denn, so das Schwurgericht, »der Angeklagte habe dem Minister zwar mit der Schusswaffe auf Monate vorerst unschädlich machen wollen«, strafmildernd sei aber in Betracht zu ziehen, dass er »durch die Lektüre von Zeitungen, Broschüren und durch den persönlichen Eindruck, den der Reichsminister Erzberger in den Beleidigungsprozess gegen den Staatsminister a.D. Dr. Helfferich gemacht habe, so gegen den Reichsminister beeinflusst worden sei, dass er zu der Tat schritt.« Hatte also das Opfer den Anschlag nach diesen Ausführungen nicht zuletzt sich selbst zuzuschreiben, so meinte das Gericht auf der anderen Seite, »zu Gunsten des Angeklagten würdigen zu sollen, dass er sonst von idealer Gesinnung sei.« Und es vergaß nicht, darauf hinzuweisen, dass zahlreiche Personen aus den verschiedensten Kreisen die Tat des Angeklagten gebilligt und ihn beglückwünscht haben.
Wie erklärt sich die Kultur der Gewalt, die in dieser Haltung der Öffentlichkeit weit über die verantwortliche Mordorganisation, weit auch über die Persönlichkeit Erzbergers hinaus zum Ausdruck kommt? Zum einen ist hier sicherlich der Kontext des verlorenen Krieges zu nennen, der den Wert des menschlichen Lebens in einer uns heute kaum vorstellbaren Weise und unserm Systemvertrauen kaum vorstellbaren Weise herabgemindert und zu einer Verrohung des gesellschaftlichen Umgangs geführt hat, wie sie in der Welt von gestern […] nicht vorstellbar schien. Allerdings – kleine Warnung – es wäre voreilig, die vierjährige Fronterfahrung unmittelbar als Motor der Nachkriegsgewalt zu deuten. Dagegen spricht schon die andersartige Entwicklung in den Siegerländern, die nach 1918 in Frankreich, England, in den USA zu einem zivilen Zusammenleben zurückfanden. Auch verlief die Novemberrevolution alles andere als gewaltsam. Und die Mehrheit der Frontsoldaten suchte etwas anderes als die Fortsetzung ihrer oft traumatischen Gewalterfahrung im Krieg. Tatsächlich sollte sich in der Zwischenkriegszeit stärker als die Frontgeneration die Kriegsjugendgeneration für die Faszination der Gewalt empfänglich zeigen, wie sich schon beim Rathenau Mord zeigen sollte.
Eine besonderen Gewaltbeschleuniger bildeten darüber hinaus die Nachkriegskämpfe. Wenn am Anfang die Gewalt war, bezieht sich das auf die ungeheure Brutalität, mit der auf beiden Seiten für oder gegen die neue Ordnung von Weimar gekämpft wurde. In diesen Kämpfen bildete sich mit den Freikorps, mit den Einwohnerwehren, mit den Wehrverbänden ein besonderes Milieu der sozialen Militarisierung deklassierter und entwurzelter Bürgersöhne – es geht hier um Söhne und nicht um Töchter – heraus, das einen förmlichen Gewaltkult einer entgrenzten Maskulinität ausprägte, die Klaus Theweleit in plastischer Eindrücklichkeit vor über dreißig Jahren geschildert hat. Man musste im sozialpsychischen Deutungskonzept der emotionalen Verstümmelung einer fragilen Männlichkeit im soldatischen Körperpanzer nicht folgen, um die extatische Feier der Gewalt nicht nur in den sadistischen Schilderungen Manfred von Killingers, sondern auch in der in die Gewalt umstürzende Programmatik Hermann Ehrhardts zu erkennen. Dass diese Gewaltbereitschaft sich in der Welle von rechts, die Ernst Troeltsch 1919 diagnostizierte, so rasch, so vehement ausbreiten konnte, hängt zudem mit den Kontextbedingungen des überraschend verlorenen Weltkrieges zusammen, das das geschrumpfte Deutschland um seinen weltpolitischen Rang brachte, die wirtschaftliche Lage des Mittelstandes durch die galoppierende Inflation drastisch verschlechterte, und die vierjährige Hingabe von Leib und Leben an den Krieg zu einer sinnlosen Fehlinvestition gemacht hatte. Insbesondere der abrupte Sturz von der Siegesgewissheit in eine unverstandene und totale Niederlage schürte schließlich die unheilvolle gesellschaftliche Disposition zu Nationalismus, Ultranationalismus, Rassismus und Antisemitismus immer weiter, die bereits während des Krieges parallel zu den schwindenden Kriegsaussichten gewachsen waren. Sündenbocksuche, Verschwörungsmythen und Judenhass bildeten auch in der Attentatsserie von 1921/22 das für die an den Attentaten Beteiligten wie für republikfeindliche Öffentlichkeit ein plausibles Framing – auch wenn anders als Rathenau weder Erzberger noch Scheidemann Juden waren und von Salomon den Mordkomplizen Hartmut Plaas sogar die Äußerung in den Mund legte, Rathenau sei nicht ermordet worden, »weil er Jude war, sondern obwohl er Jude war«.
Mein letzter Punkt zu der Frage der Gewaltkontinuität: Hundert Jahre später, heute, namentlich befördert und befeuert durch die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walther Lübcke und die Mordserie des NSU, stellt sich die Frage nach der Kontinuität der rechtsterroristischen Gewaltgeschichte über die Zäsur über 1945 hinweg in die Bundesrepublik der Jetzt-Zeit. Tatsächlich zieht sich eine in der Öffentlichkeit wenig bekannte Terrorspur von den Werwolf-Kommandos über die Wiking-Jugend und verschiedene Wehrsportgruppen bis zu den Einzeltätern, die 1968 den Anschlag auf Rudi Dutschke verübten,1980 das dreizehn Menschen tötende Oktoberfestattentat begingen, 1997 auf der Suche nach Gregor Gysi einen Buchhändler niederschossen oder 2003 eine ganze Rechtsanwaltsfamilie auslöschten, bevor noch die Anschläge auf die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker, auf das Olympia-Einkaufszentrum in München 2016 sowie die Anschläge von Hanau und Halle grell beleuchteten, dass die Serie rechtsterroristischer Gewalttaten auch in der Bundesrepublik nie abgerissen ist. Die Übereinstimmungen sind ja offenbar. Alle genannten Taten richteten sich gegen verhasste Minderheiten und entsprangen rassistischen und rechtsextremen Weltbildern, hinter ihnen standen in vielen Fällen im Untergrund arbeitende Netzwerke, die im Falle der sogenannten Wehrsportgruppe Hoffmann und anderer Terrorzellen, teils umfassende Waffen- und Munitionsdepots angelegt hatten. Die Anschläge wurzelten regelmäßig in einem politischen Tatumfeld, das durch rechtsradikale Parteien wie die NPD und durch die Geltungskraft tatmotivierender Verschwörungsideologien geprägt war.
Zugleich aber – und das ist mein eigentlicher Punkt – sind auch die Differenzen nicht zu übersehen und sie legen aus meiner Sicht nahe, die äußerliche Kontinuität, die ich beschrieben habe, nicht mit innerer Bruchlosigkeit zu verwechseln. Die angegriffenen oder erst ausgespähten Opfer der Attentatsserie von 1921 waren mit Erzberger, Scheidemann, Rathenau, Reichspräsident Ebert, Reichskanzler Wirth und den sächsischen Innenminister Lipinski ausschließlich Führern der Repräsentanten der Weimarer Republik. Die rechtsextremen Anschläge der bundesdeutschen Zeitgeschichte betrafen überwiegend soziale und kulturelle Randgruppen oder richteten sich gegen eine unbestimmte Menschenmenge. Die Anschläge auf Dutschke, Reker und Lübke allerdings bilden hier bedeutende Ausnahmen. Wir können gerne diskutieren, ob hier der Begriff der Ausnahme zulässig ist. Auch die Täterprofile unterscheiden sich signifikant. Die Weimarer Attentäter waren in den Worten Ernst von Salomons mehrheitlich »Söhne fundiertesten Bürgertums«. Ihre Väter waren Kunstmaler, Museumsdirektoren, Professoren, Kriminalbeamte und die Helfershelfer ihres Umfelds machten in späteren Jahren nicht nur wie Manfred von Killinger – denn nomen est omen – Karriere im NS-Staat als Ministerpräsident und Botschafter, sondern sie stiegen mit Ernst von Salomon, [CF8] Friedrich Wilhelm Heinz oder Franz Maria Liedig zum Erfolgsautor, zum Nachrichtendienstchef und zum CSU-Mitgründer auf. Für die Mörder trifft das allerdings nicht zu. Sie kehrten erst mit der NS-Herrschaftsübernahme zurück und blieben in dieser Zeit und danach immer Außenseiter. Dramatisch unterschiedlich präsentiert sich darüber hinaus der kulturelle und politische Kontext. Nach dem Erzbergermord applaudierte ein beträchtlicher Teil der deutschen Zeitgenossen vom nationalkonservativen Milieu bis in die Mitte der Gesellschaft, teils verdeckt, teils schadenfroh. Als der bei dem Attentat schwer verletzte Begleiter Carl Diez sich nach der Tat blutend – Lungensteckschuss – zum Hotel schleppte, »begegnete er einer Hamburgerin vornehmen Aussehens, sie half ihm, aber als er erzählte, was geschehen war, bemerkte sie nur trocken: ›Wie konnten sie nur mit Erzberger spazieren gehen?‹« Mehr noch, die illegale Aufrüstung des Weimarer Hunderttausend-Mann-Heeres mithilfe der schwarzen Reichswehr brachte es mit sich, dass die Organisation Consul mit ihren Waffenschiebungen und in ihrer Erfüllung nachrichtendienstlicher Aufgaben in Atmosphäre lizensierter Illegalität operierte und sich dem Zeugnis Salomons zufolge als Teil der im Versailler Vertrag verbotenen Abwehr verstand. Das führte zu der grotesken Situation, dass die in den zwei Rathenau-Mordprozessen Angeklagten sich erfolgreich als Interessenwahrer des Reiches inszenieren konnten und fallweise erfolgreich den Ausschluss der Öffentlichkeit beantragten, sobald sie vorgaben, dass ihre Aussagen außenpolitische Probleme machen könnten, indem sie nämlich durchblicken ließen, dass ihre Enthüllungen das Recht auf dem sensiblen Feld der illegalen Aufrüstung und der schwarzen Reichswehr das Reich in schwere Bedrängnis bringen könnte. Damit hatten sie eine Waffe in der Hand, die ihnen in allen Attentatsprozessen die Regie über das Verfahren verschaffte. Wie die Verteidigung in einer Denkschrift an den Staatsanwalt zum Ausdruck brachte, ich zitiere mal daraus: »Eine Fortsetzung der Untersuchung in der OC-Sache bringt diese allgemeine politische Gefahr immer näher, denn bisher ist es der Verteidigung gelungen, die Beschuldigten zum Stillschweigen über ihre Beziehungen zur Organisation, zu den Regierungen anzuhalten. Ob dies bei 120 Angeschuldigten für die Dauer der Fortsetzung des Verfahrens und insbesondere für die Hauptverhandlung möglich sein wird, entzieht sich vor allem auch in Hinblick auf die temperamentvolle Jugend des Großteils der Angeklagten jeder Voraussehung.« In dem einen gegen die OC geführten Prozess, der mit Freispruch endete 1924, warf die Verteidigung die Frage auf, ob die Fortsetzung der Untersuchung mit Rücksicht auf die politische Lage überhaupt möglich ist, es handelt sich darum, dass die Fortsetzung der Untersuchung das Augenmerk der Franzosen und der übrigen Entente-Mitglieder auf die Sache lenken könnte uns so weiter.
Gegen die Kontinuitätsthese spricht schließlich, dass das Gewaltverständnis der Weimarer Rechtsputschisten, das ist jetzt eigentlich die These, eher funktional als exzessiv begründet war. Vergleichsweise wenige von ihnen schlossen sich vor oder nach 1933 der NS-Bewegung an. Und diejenigen, die es taten, wurden teils bereits im Zuge der mit dem Namen Röhm verbundenen Säuberungswelle, für die sich dieser seltsame Name »Röhm-Putsch« eingebürgert hat, 1934 ausgeschaltet oder sie verharrten im NS-Staat in innerer Distanz, schlossen sich vereinzelt sogar dem Wiederstand an und integrierten sich im Überlebensfall angesichts ihrer mörderischen Vergangenheit überraschend vorbehaltlos in die neue bundesdeutsche Ordnung. Nicht deutsch-demokratisch, sondern bundesdeutsch. Dass den Mördern Erzbergers diese Integration nicht gelang, spricht nicht gegen diese Hypothese. Im Gegenteil, die blieben Außenseiter, weil sie mit der Bürde ihrer Schuld nicht fertig wurden, und zumindest im Falle Heinrich Tillessen, der zum Katholizismus zurückkehrte, auch nicht fertig werden wollten. Und selbst von Salomon, der schreibende Attentäter, bekannte wenige Wochen vor seinem Tod, dass ihn der Gedanke an das von ihm verübte Verbrechen keinen einzigen Tag seines Lebens mehr losgelassen hatte. Und dieses Denkmuster prägte seine beiden autobiographischen Bücher »Die Geächten« und »Der Fragebogen«, die nicht Erzberger, wohl aber Rathenau das Opfer der eigenen Mordanschläge zu fast mythischer Größe erheben. Das muss ich zum Schluss zitieren, damit Sie mir das abnehmen: »Dieser Mann ist Hoffnung. In seine Hand ist mehr gelegt, als je seit dem November ’18. Aber wenn dieser Mann dem Volke noch einmal einen Glauben schenkte, das ertrüge ich nicht.« So schwülstig rühmt Salomon in den Worten des Attentäters Kern hier einen Politiker, den die OC zu töten sich anschickte. Und so kühl stand der eigentliche Kopf der Weimarer Mordserie zu der Gewalt, die die Essenz seiner kurzzeitigen Machtstellung in der frühen Weimarer Republik war. Hermann Erhardt hatte dem Vernichtungskrieg gegen die Herero 1904 und in der Schlacht am Waterberg die Effektivität der entgrenzten Gewalt erkannt und zu seinem eigentlichen politischen Instrument erkoren, ohne sie aber zum Selbstzweck zu machen. Weniger flammender Hass als vielmehr kalte Gleichgültigkeit gegenüber dem menschlichen Leben beherrschte den Terror, dem am 26. August 1921 Matthias Erzberger zum Opfer fiel. Und diese Gleichgültigkeit setzt sich bis heute in vielen Formen fort, aber sie bildet keine unmittelbare Kontinuität zur enthemmten Gewaltentladung gegenüber verhassten Gruppen der Gegenwartsgesellschaft, wie wir sie in den rechtsradikalen Anschlägen unserer Zeit erleben. Das ist die These.
Zusammenfassung der Podiumsdiskussion mit Prof. Dr. Martin Sabrow, Dr. Susanne Kaiser und Dr. Christian Faludi, moderiert von Dr. Andreas Braune
Die Geschehnisse rund um den Kapp-Lüttwitz-Putsch mit seinen bürgerkriegsähnlichen Folgen aufgreifend, diskutierte das Podium zunächst über die Frage, warum sich das Potenzial republikkritischer Gruppierungen nicht so recht durchsetzen konnte. War die Republik wehrhafter, als es sich ihre Gegner eingestehen wollten? Martin Sabrow führte die aktuelle Forschungssicht an, dass die Republik zwar zerstört worden sei, sich aber auch gewehrt habe. Geheimorganisationen wie die OC, aber auch der Zusammenschluss der Brigade Ehrhardt überschätzten trotz unstrittiger Hinweise auf ihre Schlagkraft regelmäßig ihre Stärke – sie sei »ein Stück weit wie ein Phantom« gewesen.
Das Podium diskutierte im weiteren Verlauf über die Parallelen und Differenzen zur Gewaltkultur heute, die häufig zunächst im Internet verbal betrieben wird, tatsächlich aber oft genug in Taten umschlägt. Dem Heidelberger Professor Emil Julius Gumbel wurde das Abhalten seiner Vorlesungen unmöglich gemacht, da alle potenziellen Besucher seiner Vorlesung sonst vor ihm »ausgespuckt hätten« (Sabrow), aber auch die Begleitung der Reise von Hindenburg und Ludendorff im November 1919 zum Reichstag durch die Berliner Lehrer- und Schülerschaft wurde exemplarisch für die heute beinahe unmöglich erscheinenden Ereignisse der damaligen Zeit aufgeführt. Martin Sabrow betonte jedoch vehement die Notwendigkeit anderer Fachdisziplinen, die auf Gemeinsamkeiten hinweisen und den »Nahblick in eine übergreifende Kontinuität versetzten«. Susanne Kaiser ergänzte die Diskussion um den Aspekt der Enthemmung der Gewalt und zog Vergleiche mit unserer heutigen Zeit heran: Früher seien Morde an politisch relevanten Männern vollzogen worden, heute werden auch Frauen gezielt umgebracht. Ein Beispiel dafür ist die »Incel-Rebellion«. Jedoch finden sich gehäuft Überschneidungen mit der rechten Szene. Auch das erste Opfer des Attentäters von Halle ist 2019 eine Frau gewesen. Kaiser zitierte ausführlich dessen Klage nach dem »Niedergang des weißen Mannes«.
Der NSU, das Christchurch-Attentat, der Utoya- oder Halle Attentäter – sie alle haben Jahre mit theoretischen Planungen und strategischen Vorbereitungen verbracht und mögen in ihrem jeweiligen Rahmen auch von Hass getrieben worden sein. Das Ziel rechtsextremer Gewalt ist es, auch Anregung für andere zu sein und damit weitere Anschläge nach sich zu ziehen. Der Halle-Attentäter, der seine Pläne seit dem Christchurch-Attentat geplant und vorbereitet hatte und die Gamification des Terrors stellten weitere Ausführungen des Podiums dar. Letzteres drückte sich durch Forderungen, dass »bestimmte Subjekte ausgeschaltet wurden« oder »von ihrem Lebensstatus in den Unlebendstatus transferiert wurden« (Kaiser) aus. Die Entmenschlichung und Entemotionalisierung war dabei grundlegend für die Gamification. Christian Faludi vertrat die These, dass Rausch und Enthemmung letztlich auch mit der Tat selbst Auftrieb erhielten. Neben den Taten auf Utoya 2011 wäre hier auch das exzesshafte Verhalten nach der Niederschlagung des Putsches im Ruhrgebiet 1920 anzuführen. Daneben besprach das Podium die Perspektive des Strategischen und des Glaubens daran, dass es Massen gäbe, die hinter dem jeweiligen Akteur stünden und ihn auf seinem Weg folgen würden. Als Beispiel wurde erneut der Kapp-Lüttwitz-Putsch angeführt, aber auch die Morde an Erzberger und Rathenau. Durch Martin Sarbrow wurden die Bedenken geäußert, dass »wir die Massivität der Bedrohung in der Weimarer Zeit unterschätzen, wenn wir die Parallelen zu stark zeichnen oder andersherum gesagt: dass wir überreagieren, wenn wir uns in einer analogen Situation befinden«. Zustimmung fand seine Ansicht, dass ein grundlegendes Problem der Geschichtsdarstellung der Glaube an Blaupausen und die Möglichkeit des Lernens daraus sei: Es ist eben nicht genau so wie damals und es wiederholt sich nicht auf die eben selbe Weise.
Susanne Kaiser ergänzte die Diskussion des Podiums schließlich um den Aspekt des Medialen: Der Sturm des Kapitols in den USA habe 2021 gezeigt, dass »völlig absurde Verschwörungstheorien« durch absolute Vernetztheit ein »gewisses Momentum« erreichen können. Doch auch die Möglichkeiten situativer Vergesellschaftung früherer Zeiten – zu beobachten an den unterschiedlichen Darlegungen derselben Ereignisse in den unterschiedlichen Zeitungen eines Tages zu Zeiten der Weimarer Republik – wurden diskutiert. Einschränkend wurde dargelegt, dass letztlich das Ergebnis den Fokus der Betrachtung darstelle, sei es auch aus wahnhaften Motiven und Enthemmung oder auch einer strategischen Vorgehensweise entstanden. Eine starke Diskrepanz besteht hingegen zwischen dem Mainstream-Diskurs der prominenten Medien und dem Gegendiskurs, welcher vor allem in den sozialen Medien Anklang findet. Politisch wird vor allem letzteres noch nicht ernst genug genommen und führt zu einer Verrohung des Online-Diskurses.
Ausführlich diskutierte das Podium über die »gefühlte« Erosion der Gewaltmonopols. Die Frage, die sich den drei Gästen der Veranstaltung stellte, war, ob die Wahrnehmung der Gewaltzunahme zu bestätigen oder der Fokus auf eben diese lediglich sensibler geworden ist. Grundsätzlich einig wurde man sich hinsichtlich der Aussage, dass unsere Zeit friedfertiger als die vor zwanzig oder dreißig Jahren ist. Einhellig wurde beispielhaft auf verschiedene Aspekte des sogenannten Baseballschläger-Jahrzehnts eingegangen, jedoch auch das Ausmaß des Einflusses der subjektiven Wahrnehmung und Perspektive betont.
Zurückgreifend auf die angesprochenen medialen Einflüsse auf Gewalt und die Wahrnehmung dieser wendete sich die Diskussion schließlich der Position der Demokratie und der damit einhergehenden Frage nach der Stabilität des demokratischen Systems in diesen gesellschaftlichen Konstellationen zu. Je gefestigter und auch in einem breiten gesellschaftlichen Konsens die Demokratie verhaftet ist, desto geringer sind die Chancen, dass es zu einer sprachlichen Radikalisierung und damit auch zu einer Radikalisierung mittels physischer Gewalt kommt. Die Gewalttaten in den letzten Jahrzehnten erscheinen dabei als Abwehrreaktionen gegen Modernisierung, Demokratisierung und auch gegen (emanzipierte) Frauen. Es geht dabei letztlich um den Verlust von Privilegien und von Macht. Gewalt wird statistisch betrachtet nicht einfach nur mehr wahrgenommen oder sensibilisiert, sondern auch mehr angezeigt. Susanne Kaiser argumentierte, man wisse schlussendlich nie genau, wie die Menschen vor 100 Jahren wahrgenommen hätten, denn es gäbe ja eben nur bestimmte Quellen, die mit der Wahrnehmung von heute gedeutet würden.
Ein Fazit der Diskussion, welches die Podiumsteilnehmenden trafen, war das des deutlich hervortretenden Generationsunterschieds. Die Diskutanten entstammten unterschiedlichen Alterskohorten und besprachen beispielreich ihr unterschiedlich, aber generationell geprägtes Vertrauen zu und in Ordnungskräfte wie die Polizei. Ob Rechtsextremismus einen direkten Zusammenhang zu polizeilichen Strukturen aufweist, ob das Institutionsvertrauen der heutigen Zeit dauerhaft verankert, ob ein physisch gewaltvoller Angriff angezeigt werden sollte, ob man über die Inschrift der Heidelberger Heiliggeistkirche »Bündler bündeln und anzünden!« lachen oder darüber entsetzt sein sollte, ob der »NSU 2.0« einen »Rückfall ins Alte« darstellt oder eine erschreckende Neuerung, ein akutes Bedrohungsszenario oder gar ob es Verwunderung hervorrufen sollte, am Eingang eines Punk-Konzertes erst einmal seine Gaspistole in einen Wäschekorb werfen zu müssen, wie es Anfang der 90er-Jahre als völlig normal hingenommen wurde – all dies sorgte bei den Zuschauenden wie auch innerhalb des Podiums für gespanntes gegenseitiges Zuhören und das ein oder andere Raunen der Verblüffung. Einhellige Zustimmung fand jedoch Christian Faludis Feststellung, dass wir heute medial stark mit Gewalt konfrontiert sind, aber dass die Diskussion dennoch völlig ohne Angst vor physischer Bedrohung durch radikale Gruppierungen frei und unbehelligt stattfinden konnte.