Die GEDG erinnert gemeinsam mit der Universität Jena mit einer Gedenktafel und einem szenischen Vortrag mit Podiumsdiskussion an die Berufung der Pädagogin Mathilde Vaerting vor 100 Jahren
Vor 100 Jahren, am 1. Oktober 1923, wurde die Pädagogin Mathilde Vaerting an die Universität Jena berufen – seit dem 3. November 2023 erinnert eine Gedenktafel im Universitätshauptgebäude (Fürstengraben 1) an die damit erste ordentliche Professorin an einer deutschen Universität. Mit der Initiative zollt die Universität gemeinsam mit der Gesellschaft zur Erforschung der Demokratie-Geschichte (GEDG) der Pädagogin den Respekt, der ihr während ihrer Zeit an der Universität Jena selbst verwehrt blieb. Das Ministerium für Volksbildung hatte sie gegen den Willen der damaligen Universitätsleitung an die Universität berufen – ihre knapp zehn Jahre in Jena waren geprägt von Schikanen und Anfeindungen.
„Mit dieser Gedenktafel rücken wir die Pionierin Mathilde Vaerting ins Licht, die als erste ordentliche Professorin an einer deutschen Universität Geschichte schrieb“, sagt Prof. Dr. Georg Pohnert, der seit 1.11. die Amtsgeschäfte des Präsidenten der Universität Jena führt. „Im Vergleich zu Margarete von Wrangell, die im selben Jahr als erste Professorin an eine landwirtschaftliche Hochschule berufen wurde, ist Vaerting jedoch nur wenig bekannt. Dies liegt auch daran, dass die Nationalsozialisten ihr die Professur nahmen. Es wird höchste Zeit, dass wir ihrer gedenken und insbesondere die Wissenschaftlerin würdigen, die mit vielen ihrer Studien und Forschungsansätzen ihrer Zeit weit voraus war.“
„Mathilde Vaerting war in allen Bereichen ihres akademischen Wirkens eine Pionierin. In ihren Geschlechterstudien analysierte sie scharf die Strukturen ihrer Zeit und setzte emanzipatorische Impulse. Als erste ordentliche Professorin an der Universität Jena forderte sie den konservativen Kreis der alten Eliten heraus und stieß auf deren erheblichen Widerstand“, sagt Dr. Christian Faludi von der GEDG, der die Gedenktafel angeregt hat. „Mathilde Vaerting war Wegbereiterin für ganze Forschergenerationen, ihre Beharrlichkeit und ihr Mut können uns auch heute noch Vorbild sein.“
Antrittsvorlesung und Podiumsdiskussion mit Minister Wolfgang Tiefensee
Am 28. November um 18 Uhr wird Schauspielerin Johanna Geißler vom Deutschen Nationaltheater in der Aula der Universität die Antrittsvorlesung Mathilde Vaertings vortragen. Daran schließt sich eine Podiumsdiskussion mit dem Thüringer Minister für Wirtschaft, Wissenschaft und Digitale Gesellschaft Wolfgang Tiefensee, der Historikerin Annette Weinke, der Pädagogin Bärbel Kracke (beide Universität Jena) und Christian Faludi von der GEDG an. „Die Berufung Mathilde Vaertings erfolgte nicht durch die Initiative der Universität, sondern durch den damaligen Thüringer Minister für Volksbildung Max Greil“, sagt Dr. Christian Faludi von der GEDG. Die Universitätsleitung sah in dem Vorgang einen Affront. „Zum einen sah sie darin einen Eingriff in die universitäre Autonomie, zum anderen lehnte die Mehrzahl der Professoren eine Frau auf einem Lehrstuhl ab, den sie zudem als unnütz empfand.“ Und auch die überwiegend männliche Studierendenschaft lehnte Vaerting ab. Infolgedessen war sie vor allem Anfeindungen ausgesetzt. Wortführer der Gegner wurde der bekannte Antisemit Ludwig Plate, der unter anderem 1930 eine Schmähschrift gegen Vaerting mit dem Titel „Feminismus unter dem Deckmantel der Wissenschaft“ publizierte.
Biografisches: Wer war Mathilde Vaerting?
Mathilde Vaerting, geboren 1884 im Emsland, studiert Naturwissenschaften und Philosophie und wird 1911 in Bonn im philosophischen Bereich promoviert. Nach ihrem Studium arbeitet sie als Lehrerin in Berlin, forscht nebenbei und besucht Lehrveranstaltungen in der Medizin und der Soziologie. Ihre Forschungsarbeiten richten sich schon früh gegen etablierte Lehrmeinungen und Unterrichtspraktiken, etwa wenn sie sich gegen das Auswendiglernen als Unterrichtsmethode und für eine Gleichberechtigung zwischen Lehrenden und Lernenden ausspricht. Zudem widmet sie sich zunehmend einem Wissenschaftsbereich, den es zu diesem Zeitpunkt kaum gibt: der Geschlechterforschung. Mathilde Vaerting stellt dabei klar heraus, dass das Geschlecht bei der Bildung keine Rolle spielt. Mädchen sind in naturwissenschaftlichen Bereichen nicht weniger begabt als Jungen. Unterschiede entstehen nur durch verschiedene gesellschaftliche Machtpositionen – angeblich geschlechtsspezifische Eigenschaften sind ein Resultat von Herrschaftsverhältnissen. Sie verbindet auf diese Weise pädagogische, psychologische und soziologische Ansätze miteinander und öffnet den Weg für neue wissenschaftliche Fragestellungen.
Ihre Habilitationsschrift, die sie 1919 an der Universität Berlin einreicht, wird nicht zuletzt wegen Vorbehalten gegen das Forschungsgebiet abgelehnt. Trotzdem beruft sie der damalige Thüringer Minister für Volksbildung Max Greil 1923 im Rahmen einer umfassenden Reform des Thüringer Schulwesens als Professorin für Pädagogik an die Universität Jena. Die Leitung sieht darin einen Eingriff in ihre Autonomie – erst recht, da hier erstmals eine Frau einen Lehrstuhl an einer Universität besetzt. Kollegen sprechen ihr die fachliche Eignung ab. Der Zoologe und Antisemit Ludwig Plate veröffentlicht sogar eine Schmähschrift mit dem Titel „Feminismus unter dem Deckmantel der Wissenschaft“ gegen sie. Ihr Kollege Peter Petersen, der ebenfalls von Greil nach Jena berufen worden ist, sieht sich weitaus weniger behelligt.
Nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten 1933 verliert Mathilde Vaerting ihre Professur und wird vom Hochschuldienst ausgeschlossen. Sie zieht zurück nach Berlin. Ein Ausreiseverbot verhindert, dass sie Rufe an Universitäten in den Niederlanden oder den USA annehmen kann. Ein Publikationsverbot verhindert das Fortführen ihrer wissenschaftlichen Arbeit. Auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bleibt ihr die Rückkehr an eine Universität verwehrt. Sie wendet sich der Staatssoziologie zu, kann aber nicht mehr Fuß fassen in der Wissenschaft. Mathilde Vaerting stirbt am 6. Mai 1977 in Schönau im Schwarzwald. Seit den 1990er Jahren wird ihr Werk wiederentdeckt. Heute gilt sie als wenig bekannte aber nicht weniger bedeutende Vorreiterin einer Pädagogik, die gesellschaftlichen Machtverhältnissen und der Wirkung von Differenzkategorien Rechnung trägt.