11.11.2021 / Weimar / Éva Pusztai-Fahidi (geb. 22. Oktober 1925 in Debrecen) im Gespräch mit Dr. Christian Faludi. / Gesellschaft zur Erforschung der Demokratiegeschichte e.V. (GEDG) / Foto: Henry Sowinski
Gespräch

Im Gespräch mit Éva Fahidi

Ein Interviewbeitrag von Christian Faludi aus dem Prospect 22, Bulletin der GEDG

Als ich Éva Fahidi zum ersten Mal begegnete, hakte sie sich mit ihrer Hand unter meinen Arm. Sicher fiel der 96-Jährigen in jenem Moment das Gehen schwer; mehr noch aber freute sie sich, mich zu sehen. Éva duzte, wie sie es „mit der ganzen Welt tut“, und sie suchte die Nähe zu mir – dem Deutschen mit dem vertraut klingenden Namen. Man darf wohl sagen, die Sympathie galt gegenseitig. Vor allem aber stellte Éva allerhand Fragen, welche die Geschichte meiner Familie betreffen, und die ich bislang in dieser Ausführlichkeit noch nicht beantworten musste – beziehungsweise auch nicht beantworten konnte. Dass uns dieser Umstand einige Wochen später wiederholt zusammenführen würde, war damals längst noch nicht klar. Vielmehr sollte es zunächst darum gehen, Éva für den Prolog des „Weimarer Forums für Erinnerungskultur“ am 9. November im Deutschen Nationaltheater zu gewinnen. Schließlich war ihr der Part als Zeitzeugin zugedacht; und das aus gutem Grund:

Éva Fahidi wurde am 22. Oktober 1925 im ostungarischen Debrecen, nahe der Grenze zu Rumänien geboren. Ihre Familie gehörte dem großbürgerlichen Milieu der Region an, das aufgrund seiner jüdischen Wurzeln infolge der antisemitischen Doktrin des Horthy-Regimes unterdrückt wurde. Nicht zuletzt deshalb konvertierte die Familie 1936 zum Katholizismus. Acht Jahre später, infolge der Besetzung Ungarns durch deutsche Truppen im März 1944, waren die Fahidis den rassistischen Kriterien des „Dritten Reiches“ unterworfen – welche sie erneut zu Juden und damit zum Ziel der nationalsozialistischen „Endlösung“ in Europa machten.

Unmittelbar darauf begann die vollständige Segregation der Minderheit im eigenen Land: Zunächst wurde die jüdische Bevölkerung Debrecens in ein Ghetto gepfercht; ab Juni 1944 rollten die Deportationstransporte nach Auschwitz-Birkenau. In der von Adolf Eichmann konzertierten Aktion verschleppten die Deutschen, unterstützt durch ihre einheimischen Helfer, innerhalb von nur acht Wochen rund 430.000 ungarische Juden in das Vernichtungslager. Direkt nach der Ankunft an der sogenannten Rampe wurden die Menschen von Sonderkommandos aus den Viehwaggons getrieben und der „Selektion“ zugeführt. Während die 18-jährige und ihr Vater Dezső in Kolonnen zur Verwendung als Arbeitssklaven eingereiht wurden, ließen die SS-Ärzte Évas Mutter Irma und die 11-jährige Schwester Gilike in einer Gaskammer ermorden. Etliche weitere Verwandte teilten das Los. Insgesamt raubte die NS-Vernichtungsmaschinerie 49 Angehörigen der Großfamilie das Leben – darunter auch Évas Vater, der kurz nach der Ankunft im Lager an den Bedingungen zugrunde ging.

Mitte August 1944 gehörte Éva einem Transport von Tausend Jüdinnen an, die ins hessische Münchmühle im Herrenwald bei Allendorf (heute Stadtallendorf) gebracht wurden, wo sie Granaten für den längst entschiedenen Krieg herstellen mussten. Im Frühjahr 1945 begannen die Todesmärsche. Éva überlebte auch diese Torturen. Im März wurde sie von amerikanischen Truppen befreit. Anschließend schlug sie sich durch die Nachkriegswirren bis in ihre Heimat zurück. Als Éva Debrecen Monate später im November 1945 erreichte, fand sie ihr Elternhaus bewohnt vor. Die Fremden verweigerten den Zutritt. Asyl fand sie in der Slowakei bei ihrem Onkel und „Ersatzvater“ Géza. Zwei Jahre verbrachte sie in dessen Haus; fast ausschließlich im Bett – zu schwer lastete das Erlebte auf Körper und Seele.

Als Évas Heimatland im August 1949 zur Volksrepublik wurde, war sie Teil der Kommunistischen Partei. Mit dem politischen Engagement verband die Überlebende ihre Hoffnungen auf die Gestaltung einer besseren Gesellschaft – welche noch vor dem Ungarischen Volksaufstand 1956 der Enttäuschung weichen mussten. 1952 wurde Éva aus dem Kulturdienst verbannt. Fortan schlug sie sich als Hilfsarbeiterin auf Baustellen durch, goss Beton und begann wieder einmal von Neuem, belegte Kurse im Bauwesen und erhielt Diplome. Sie machte Karriere und konnte als Industrieangestellte im Außenhandel aufgrund ihrer Fremdsprachenkenntnisse und ihrer Expertise beruflich ins Ausland reisen. Sie heiratete und wohnte in Budapest. Vor allem aber schwieg Éva über die Zeit in den Lagern. Das Erlebte der Jahre 1944/45 blieb für sie lange Zeit ein Trauma, über das „man nicht spricht“ – auch weil sie wie so viele ihrer Leidensgenossen das Gefühl der Schuld plagte, überlebt zu haben, während andere gestorben sind. Aber es fragte auch niemand.

Fast 45 Jahre nach dem Martyrium ließ sich Éva doch noch dazu bewegen, nach Stadtallendorf zu reisen, um Teil einer Begegnungswoche zu sein. Das Gefühl, in ein verändertes Deutschland zurückzukehren, das sich mit seiner Vergangenheit auseinandersetzt, berührte die 63-jährige. Und die Erfahrung veränderte sie so sehr, dass ein schrittweiser Bewältigungsprozess in Gang gerät. Im Jahr 2003 reist Éva nach Auschwitz-Birkenau, wo sie schlussendlich sämtliche Barrieren überwindet. Fortan wird sie ein Aktivposten der lebendigen Erinnerungskultur und Gedenkstättenarbeit in Europa. Éva spricht; vor allem die jungen Menschen liegen ihr dabei am Herzen; und sie schreibt auf, was ihr widerfahren ist. Die Erinnerung wach zu halten, wird ihr innerer Motor, ihr Lebensziel.[1]

Im November des Jahres 2021 führt die Mission wider das Vergessen Éva Fahidi erneut nach Weimar, und ihr Kalender ist für die wenigen Tage Aufenthalt einmal mehr über Gebühr gefüllt. Neben dem „Weimarer Forum für Erinnerungskultur“ stehen Termine in Schulen und ein Empfang in Berlin an. Die Strapazen der Reise unter den Bedingungen der Pandemie und das nasskalte Wetter setzen ihr dieses Mal allerdings so sehr zu, dass sie ausruhen und unsere Abendveranstaltung im Deutschen Nationaltheater absagen muss. Nicht nehmen lassen will sie sich das persönliche Gespräch. Éva schont sich nur einen Tag und kommt anschließend zum „Freundschaftsbesuch“ in die Weimarer Räume der GEDG. „Dick angezogen wie am Nordpol“ sitzt sie schließlich neben ihrem Lebensgefährten Andor „Bandi“ Andrási auf dem Sofa in meinem Büro. Eigentlich hatte ich vor, sie hier zu interviewen. Es kommt anders. Meine Gäste eröffnen die Unterhaltung. Und sie stellen mir abermals persönliche Fragen, denen ich dieses Mal nicht ausweichen kann:

ÉF „Weißt du eigentlich, was dein Name bedeutet?“

CF: „Frei übersetzt, könnte man sagen, ich heiße ‚Christian vom Dorf‘. Richtig?“

ÉF: „Ja, das stimmt. Aber woher hast du deinen Namen?“

AA: „Was ist die Geschichte deiner Familie?“

CF: „Es ist für mich gar nicht so leicht, euch darauf eine Antwort zu geben; schon gar keine kurze. Aber ich will es gern versuchen: Meine Urgroßmutter, die tatsächlich auch Eva hieß, statt Fahidi aber Faludi, lebte in einem kleinen Dorf namens Sanktmartin nahe Arad, nur rund 200 Kilometer von Deiner Heimat Debrecen entfernt. Sie gehörte zur deutschen Minderheit der Banater Schwaben, die hier im 18. Jahrhundert angesiedelt worden waren. Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges lebte sie auf dem Territorium der Habsburgermonarchie Österreich-Ungarn. Als die Region nach dem Vertrag von Trianon ein Teil Rumäniens geworden war, förderte das den Nationalismus unter den Deutschen, vor allem unter den jungen Männern. Später waren diese besonders empfänglich für die Anziehungskraft des „Dritten Reiches“. Im Zweiten Weltkrieg führte das unter anderem dazu, dass die drei Söhne meiner Urgroßmutter nur widerwillig Dienst in der rumänischen Armee tun wollten. Als schließlich die Waffen-SS ab 1942 aktiv unter den sogenannten Volksdeutschen nach Freiwilligen suchte, um ihre immensen Verluste an den Fronten auszugleichen, nutzten alle drei die sich bietende Gelegenheit zur Desertion aus dem Wehrdienst ihres Heimatlandes.

Über das, was danach geschehen ist, habe ich allerdings keine konkreten Informationen. Meine Recherchen beim Bundesarchiv verliefen ergebnislos. Sicher ist nur, dass mein Großvater Martin mit Ende des Krieges nach Thüringen gelangt und dortgeblieben ist, während sich seine beiden Brüder nach Kanada absetzten. Nahe Weimar lernte er letztlich meine Großmutter Erika kennen. Beide führten einen kleinen landwirtschaftlichen Hof, und im Nachbarort den Konsum.“

ÉF: „Hat dein Großpapa über seine Zeit in der SS mit dir gesprochen?“

CF: „Mit mir konnte er nicht mehr darüber sprechen. Er starb, als ich ein Jahr alt war. Aber auch in der Familie wurde nicht über das Thema geredet. Martin blieb für mich immer ein Mythos, ebenso wie Sanktmartin, das traditionelle Fernziel familiärer Hochzeitsreisen, und unsere Verwandten in Rumänien für mich nie greifbar wurden. Als ich viele Jahre später einmal allein dort hingereist bin, fand ich nur noch Gräber mit den Namen der Verwandten vor. Es gab keinen mehr, der mir etwas über meine Ahnen hätte sagen können. Das empfand ich als sehr bedauerlich. Schließlich hatte ich auch von der Vergangenheit meines Großvaters nur per Zufall erfahren:

Während meiner Kinder- und frühen Jugendjahre lebte ich auf dem Hof meiner Großmutter zusammen mit etlichen weiteren Familienmitgliedern. Da alle beruflichen Tätigkeiten nachgingen, war ich das, was man gemeinhin als ‚Oma-Kind‘ bezeichnete. Und als ich eines Tages gelangweilt in den Schubladen von Großmutters Schrankwand wühlte, entdeckte ich eine Dokumentenmappe, in welcher neben dem sogenannten Ariernachweis meines Großvaters Unterlagen waren, die eindeutig belegten, dass er Mitglied der SS gewesen sein musste.

Ich war seinerzeit in einem Alter, in dem ich das durchaus einzuordnen wusste – was mich unheimlich erschütterte. Bis dato wäre ich im Traum nicht auf den Gedanken gekommen, dass mein eigener Großvater, von dem mir diese vielen liebevollen Geschichten immer und immer wieder erzählt worden sind, eine Vergangenheit gehabt haben könnte, die mit den mir bekannten Bildern der Shoah in Verbindung stehen. Dazu kamen noch die Reaktionen meiner Großmutter, die offenbarten, dass sie in gewisser Weise stolz auf die Vergangenheit ihres Mannes war. Schließlich erklärte sie mir einigermaßen lapidar, dass man mich bei meinem Aussehen ‚bestimmt auch zur SS geholt hätte‘. Da ich nicht lockergelassen habe und mehr erfahren wollte, versuchte sie andererseits aber auch zu beschwichtigen, indem sie mir versicherte, dass ‚der Opa‘ im Krieg nichts Schlimmes gemacht haben könne, da er ja nur zum Dienst in der Kleiderkammer eingesetzt worden sei. Jemandem etwas anzutun, dazu wäre er gar nicht in der Lage gewesen.

Heute weiß ich nicht, ob ihr diese Vorstellung schlichtweg unmöglich gewesen war und ob die schützende Legende schon vorab bestanden hatte oder ob diese erst in jenem Moment gestrickt worden ist. Jedenfalls wurde mir dieselbe Geschichte von da an immer wieder erzählt, wenn ich auf Martins Vergangenheit zu sprechen kam oder am Familientisch einmal mehr darüber schwadroniert worden ist, dass er stets langärmelige Hemden getragen habe, damit niemand seine Blutgruppen-Tätowierung unter dem Arm entdecken könne. Letzteres war meist dann der Fall, wenn die Schwester meiner Großmutter aus Westdeutschland zu Besuch war. Annelotte machte nämlich kaum einen Hehl daraus, dass sie die antisemitische Propaganda ihrer Jugendjahre nach wie vor für wahr gehalten hatte – was mich sehr oft sehr wütend machte.“

ÉF: „Wie waren die Reaktionen der anderen darauf?“

CF: „Ich habe keine bewusste Erinnerung an kritische Kommentare in diesen Momenten. Die Geschichten erschöpften sich meist auch in diesen kurzen Anekdoten. Erst als ich später irgendwann, als die hanebüchene Kleiderkammer-Legende erneut zum Besten gegeben wurde, deutlich machte, dass das schon allein deshalb nicht stimmen könne, da Martin in der Blüte seines Lebens mit Mitte zwanzig angeblich in der Kleiderkammer stand, während selbst die Kinder und die Alten zum Kampfeinsatz verpflichtet worden sind, kam es zum offenen Konflikt – der auch nicht mehr beigelegt werden konnte.“

AA „Weißt du, das waren viele von den Schwaben in Ungarn und Rumänien, die zur SS gegangen sind.“

ÉF: „Ich kann sagen, fast alle. Das war verlockend für die. Die SS hat den jungen Menschen schöne Sachen versprochen; eine schöne Uniform und Macht. Diese Jungs, das waren normale Kinder, wie ich es auch war. Dein Großpapa und ich, wir waren fast gleich alt. Das waren normale Bauernkinder, und dann hat man aus ihnen wirklich wilde Tiere gemacht. Schrecklich waren die SS-Menschen.“

CF: „Und dennoch konnten sie daheim liebevolle Familienmenschen sein.“

ÉF: „Die Medaille hat zwei Seiten. Auch wenn dein Großpapa SS-Mann war, auch wenn er schreckliche Dinge vielleicht getan hat. Deine Familie kannte nur die eine Seite von ihm. Daher kam der Zorn. Deiner Familie, die das andere nicht wissen will, kannst du deshalb nichts sagen.“

AA: „Das ist sehr schwer, vor allem wenn deine Großmutter auch noch stolz darauf war.“

ÉF: „Sicher war sie als junge Frau beeindruckt von den SS-Männern. Die waren sportlich und kühn und hatten schöne Uniformen. Wie sich die Geschichte in das Leben eines Menschen hineinmischt, mit wie vielen verschiedenen Schrecklichkeiten, das kann man sich da nicht einmal vorstellen. Aber weißt du, ich kann es mir nicht anders erklären, als dass jeder SS-Mensch, ob weiblich oder männlich, eine kranke Seele gehabt haben muss. Das waren doch keine normalen Menschen, wie wir sie erlebt haben. Aber andererseits können die doch auch alle keinen Psychiater gehabt haben. So viele gibt es doch nicht, die man denen hätte beistellen können. Viele von ihnen leben auch heute noch und sind ganz normale Leute, die nichts mit einer Krankheit im Kopf zu tun haben. Und die werden immer noch von Richtern zur Verantwortung gezogen. Dann prüft man die, und die sind ganz klar im Kopf.

Aber ganz egal, was in ihrer Seele ist, die müssen weiter verantwortlich gemacht werden, auch weil sie alt geworden sind und so viele von uns nicht. Einmal muss man büßen! Als sie sich gemeldet haben zur SS, als sie hingegangen sind und gesagt haben, dass sie ein SS-Mann werden wollen; damals haben sie auch klar gedacht und wussten, wo sie hingehen. Vielleicht wussten sie es nicht ganz genau mit jeder Facette, was ihnen bevorstand. Aber ihnen war doch klar, dass sie nicht Zucker an Menschen verteilen sollen. Das wussten sie doch!

Als ich vor sechs Jahren einen Prozess in Lüneburg mitgemacht habe, da wurde einer zur Verantwortung gezogen, der war auch in etwa so alt wie ich.[2] Der war ganz hell im Kopf und hat alles ganz genau gewusst. Und natürlich hat er gelogen, als man ihn fragte, was er in Auschwitz getan hat. Er hat fast alles abgestritten und nur ein bisschen zugegeben. Aber das war nutzlos. Denn, wenn jemand lügt, dann holt man den immer so schnell ein, wie einen Hund, dem der Fuß wehtut. Und selbst wenn wir diese Leute nicht entlarven, dann wird es die Nachwelt tun.

Mich hat damals das erste Mal in meinem Leben ein deutscher Richter gebeten, darüber zu berichten, wie das in Auschwitz gewesen war. Und das erste Mal in meinem Leben konnte ich vor Gericht, vor einem angeklagten SS-Mann darüber reden, wie ich es erlebt hatte. Das war ein fantastisches Erlebnis. Das war meine größte Genugtuung, die ich vom deutschen Staat bekommen habe. Das war fantastisch. Ich konnte reden, und man hat mir geglaubt!“

CF: „Was hast du gegenüber dem Mann auf der Anklagebank empfunden?“

ÉF: „Ich sage immer, ich bin erstens deshalb am Leben geblieben, weil ich sprechen soll. Und zweitens, damit ich allein durch mein Überleben den Fluch aufrechterhalte, dass diese Menschen, die diese schrecklichen Dinge getan haben, selbst in der Erde keine Ruhe finden. Gerechtigkeit kann es aber nicht mehr geben. Denn das war so bestialisch, was diese Menschen getan haben. Man kann es nicht begreifen. Dennoch hasse ich sie nicht die SS-Männer – nicht mehr!

Das war schon damals beim 70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz so, als ich die Ehre hatte, mit der Angela [Merkel] auf einer Bühne zu sprechen. Und ich habe das schon im Voraus gewusst, dass ich etwas sagen soll. Und ich wollte etwas sehr Ausschlaggebendes sagen, etwas Wichtiges. Und da habe ich darüber nachgedacht, was ich im Namen von uns allen, die das überlebt haben, vortragen kann. Und da habe ich gesagt, dass wir nicht mehr hassen. Und wir machen das, weil wir erkannt haben, dass Hass in der Gesellschaft immer auch Angst erzeugt. Und daraus entsteht eine Spirale, die kein Ende kennt. Das führt zu nichts, da kommt niemand weiter. Das ruiniert die menschliche Seele. Und wenn du etwas älter bist, kommst du darauf, dass du dich darüber erheben kannst und dich nicht moralisch kaputtmachen lassen musst. Deshalb haben wir Überlebenden gesagt: Jetzt ist Schluss mit dem Hass! Wir wollen nicht mehr hassen! Denn wir kennen die Menschen, die uns hassen und gehasst haben! Und wir wissen, wie die sind! Und wir wissen, was aus dem Hass entstanden ist! Und deshalb wollen wir nicht solche Menschen werden! Darum ist jetzt Schluss mit dem Hass!

Ich denke, das ist ein großer Schritt, mit dem man weiterkommt, weil man etwas Besseres will. Weißt du, das heißt aber nicht, dass ich diese Menschen mag. Das ist etwas anderes. Mich hat auch einmal jemand gefragt, wie ich das verzeihen konnte. Da habe ich geantwortet, dass ich überhaupt nichts verziehen habe. Zu verzeihen, das ist etwas völlig anderes. Ich habe gesagt, den Menschen soll man mir zeigen, der sagt, er könne verzeihen, dass 49 Personen aus seiner Familie ausgerottet worden sind. Seine Mutter, sein Vater, seine kleine Schwester… Den Menschen solle man mir zeigen, der sagen kann, dass er das verziehen hat!“

CF: „Was bleibt dann unsere Aufgabe?“

ÉF: „Wir müssen die neuen Generationen, wir müssen die Kinder empfindlich machen, damit ihnen das Hassen unsympathisch wird. Sie müssen im Stande sein, nicht zu hassen. Sonst arbeitet die Antipathie zwischen den Menschen. Denn keiner von uns kommt doch als ein Heiliger auf die Welt. Deshalb müssen wir es den Kindern zeigen, wie sie nicht hassen.“

CF: „Und was würdet ihr uns von der Gesellschaft zur Erforschung der Demokratie-Geschichte ins Aufgabenheft schreiben?“

AA: „Die ehrliche Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte ist nur möglich in der Demokratie. Und die Beschäftigung mit ihr hilft, dass die Demokratie stark bleibt. Von Geschichte können wir alle sehr viel lernen. Nur leider tun wir das nicht immer. Macht, dass es besser wird!“

ÉF: „Und ich möchte dir und euch unbedingt mitteilen, dass, wenn jemand eine andere politische Einstellung, oder eine andere Meinung über das Leben hat, dann ist er noch kein Feind. Der Mensch ist frei, und wenigstens denken darf er, wie er will. Aber nur wenn dieses Denken nicht manipuliert wird, gibt es Freiheit, gibt es wirklich auch Demokratie. Und deshalb müsst ihr aufmerksam sein, ob ihr auch nur den kleinsten Hass bemerkt! Denn die Menschen werden schnell in diesen Hass hineingezogen, und bemerken es nicht einmal, wie sie sich moralisch zerstören. Wenn ihr nichts dagegen macht, dann gehen ganz normale Menschen, obwohl sie den Hass sehen und hören können, dann gehen sie mit.

Mit Hass fängt es an. Ich weiß das. Denn ich habe es erlebt. Und ich weiß, damit fängt es an, und es endet im Krematorium!“


[1] Zuletzt erschien eine Autobiographie unter dem Titel: Lieben und geliebt werden. Mein Leben nach Auschwitz-Birkenau, Wiesbaden 2021. Die Zeit davor verarbeitete Éva in ihrem Buch: Die Seele der Dinge, Berlin 2011.

[2] Es handelte sich um den Prozess gegen den früheren SS-Mann Oskar Gröning wegen Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen. Éva war eine von mehr als 60 Nebenklägern. Gröning, der sogenannte Buchhalter von Auschwitz, wurde zu vier Jahren Haft verurteilt, starb allerdings noch vor Antritt der Strafe.

Christian Faludi, GEDG