Der 9. November wird mit einigem Recht als „Schicksalstag der Deutschen“ betrachtet. Außer Acht gelassen wird in dieser Redewendung allerdings die Bedeutung speziell des 9. November 1918 für unsere östlichen Nachbarstaaten und hier insbesondere Polen. Als offizieller Unabhängigkeitstag mit entsprechend großen Feierlichkeiten ist in der Dritten Polnischen Republik stets der 11. November (1918) betrachtet worden. 1937 und 1938 – also rund eineinhalb Jahre nach dem Tod von Józef Piłsudski, dem Staatsgründer und langjährigen Marschall Polens, und kurz vor dem deutsch-sowjetischen Überfall 1939 – wurde dieser Tag bereits gefeiert. Die Besonderheiten der polnischen Erinnerungspolitik lassen sich an diesem Datum ebenso festmachen wie die offenkundig ausschließliche Zentrierung der unsrigen Erinnerungspolitik auf die deutsche Geschichte links der Oder.
Die militärische Niederlage des Kaiserreiches, die Ausbreitung der Rätebewegung und die daraus folgende Novemberrevolution verursachten auch im bis dato militärisch besetzten Osteuropa tektonische Verschiebungen. Nach dem Friedensvertrag von Brest-Litowsk zwischen den Mittelmächten und Sowjetrussland, der am 3. März 1918 unterzeichnet worden war, kontrollierten deutsche und österreich-ungarische Verbände praktisch das gesamte Gebiet bis zur heutigen russischen Staatsgrenze. Finnland, das Baltikum, Polen und die Ukraine sollten dem Plan nach zu einer deutsch/österreichischen Einflusssphäre werden. Beträchtliche Gebietserweiterungen des Deutschen Reiches in Richtung Russisch-Polens und dem Baltikum waren beabsichtigt. Im Preußischen Herrenhaus freute sich so mancher Junker schon über eine mögliche Einverleibung selbst Warschaus, und Fürsten auch kleinster Staaten träumten von gigantischen Expansionen gen Ost. Doch machte die Niederlage an den West- und Südfronten die Träume der Imperialisten zunichte. Die Zukunftsperspektive für Mittel- und Osteuropa drehte sich innerhalb von Monaten um 180 Grad. Statt einer erhofften Blütezeit für das Reich, insbesondere das Königreich Preußen, endete letzteres nach einer über 200 Jahre währenden Gewaltgeschichte. Als Republik sah sich das nun sozialdemokratisch regierte Preußen seinerseits von polnischen Gebietsansprüchen herausgefordert. Die preußisch/deutschen Ostprovinzen – Hinterpommern, West- und Ostpreußen, Schlesien sowie die Provinz Posen – sollten nach dem Willen polnischer Nationalisten sämtlich an das wiedergegründete Polen fallen. So lautete nicht erst 1945 die Maximalforderung, die insbesondere von Roman Dmowski, dem Anführer des Polnischen Nationalkomitees in Paris und Kopf der rechtsgerichteten Nationaldemokratischen Bewegung, vorgetragen wurde.
Dmowski begründete diese Ansprüche auf die „Piastischen Lande“ in einer Denkschrift an US-Präsident Woodrow Wilson vom Januar 1918 sowohl historisch als auch ethnographisch. Alle Gebiete, die bis 1772 zur polnischen Adelsrepublik gehört hatten, wurden als legitimer Besitz einer Zweiten Polnischen Republik definiert. Hinzukommen sollten jene Gebiete, die mehrheitlich „polnisch“ besiedelt seien, was sich primär auf die gelebte Muttersprache der preußischen Staatsbürger „polnischer Zunge“ bezog, aber auch „eingedeutschte“ Familien ohne Bindung an die polnische Kultur bzw. Sprache einschloss. Selbst wenn die echte oder nur angenommene „Germanisierung“ bereits über 100 Jahre oder länger her war. Nicht der politische Wille der Betroffenen, tatsächlich zu einem polnischen Staat gehören zu wollen, stand insofern im Fokus Dmowskis und seiner Anhänger, sondern ein ethnonationalistisches Verständnis des Polentums. Im Falle der Ansprüche auf die ostpreußische Universitäts- und Hafenstadt Königsberg, welches anders als beispielsweise Danzig nie zur Adelsrepublik gehört hatte und praktisch keine polnischsprachige Minderheit aufwies, traten schließlich schnöde Wirtschaftsinteressen hinzu. Mit Wilsons Kernsatz – dem Selbstbestimmungsrecht der Völker, welches zum Fundament einer kurzlebigen Friedensordnung werden sollte – hatten diese polnischen Maximalforderungen insofern trotz gegenteiliger Behauptungen wenig zu tun. Volksabstimmungen in den umstrittenen Gebieten lehnte Dmowski unter Hinweis auf die preußische Germanisierungspolitik explizit ab, wobei ihm auch der enorme Wohlstandsunterschied vor Augen gestanden haben wird. Eine Wahlentscheidung zwischen dem hochindustrialisierten Deutschland und dem bäuerlichen Polen hätten viele Menschen nicht zuletzt anhand des Geldbeutels getroffen.
Dies ist der Hintergrund dafür, dass die Revolution in Deutschland zwar der parlamentarischen Demokratie den Weg ebnete, aber auch zu einer Verschärfung des Nationalitätenkampfes im Osten führte. Die Arbeiterbewegung war in den Ostprovinzen nur schwach ausgeprägt und nicht in der Lage kurzfristig eine Ordnungsfunktion vom zusammenbrechenden Kaiserreich zu übernehmen. Polnisch-nationalistische Kräfte nutzten dieses Machtvakuum dazu, um in ihrer Hochburg – der Provinz Posen – mit Waffengewalt Fakten zu schaffen und so der Friedenskonferenz vorzugreifen. Der am 27. Dezember 1918 beginnende Posener bzw. Großpolnische Aufstand mit schätzungsweise 3.500 Toten und tausenden Verwundeten sorgte für die faktische Abtrennung des Großteiles der Provinz, die Vertreibung der dortigen deutschsprachigen Minderheit und für eine nachhaltige Militarisierung der deutsch-polnischen Beziehungen, was über 20 Jahre später ein wesentlicher Grund für den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges sein sollte. Es lohnt sich, genauer auf die polnischen Jubiläumsfeierlichkeiten zu beiden Ereignissen zu blicken, die 2018/19 stattfanden, um zu erfahren, wie im heutigen Polen auf die Ereignisse geblickt wird.
Anders als die AfD verfügt die polnische Regierungspartei PiS (poln. Abk. für „Recht und Gerechtigkeit“), die von 2014 bis 2019 mit der AfD im Europäischen Parlament der Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer angehörte und selbiger bis heute vorsitzt, über große Möglichkeiten zur Verbreitung des eigenen nationalkonservativen Politik- und Geschichtsbildes. Im direkten Vergleich zu den parallel stattfindenden Veranstaltungen in Deutschland anlässlich des 100-Jährigen Jubiläums von Novemberrevolution und demokratischer Verfassungsgebung, wurden die polnischen Feierlichkeiten im Andenken an die Gründung der Zweiten Polnischen Republik mit einem enormen Aufwand betrieben. Das vom polnischen Kulturministerium zentral organisierte Programm „Niepodległa“ (Unabhängigkeit) beinhaltete mehrere Hundert Einzelveranstaltungen wie Konzerte, Gedenkfeiern, Literatur- und Musikwettbewerbe (darunter Hip-Hop, Jazz und Klassik), Planspiele, Theatervorführungen, Ausstellungen und Diverses mehr. Auch mehrere Dokumentar- und Spielfilme sowie Werbespots wurden produziert und weitere 10 Millionen Zloty an zivilgesellschaftliche Projekte ausgeschüttet. Hinzu trat die Kooperation mit den größten Unternehmen und Medienhäusern Polens. Das „Unabhängigkeit“-Logo prangte auf verschiedensten Konsumprodukten und war verbunden mit überlebensgroßen Historien-Gemälden auf Häuserwänden und Zügen zu sehen.[1] Doch was ist die politische Kernbotschaft des Ganzen?
Am 11. November 2018 rief der polnische Präsident Andrzej Duda (PiS) in der zentralen Gedenkrede in Warschau seine Landsleute zur Einigkeit unter der weiß-roten Flagge auf. Hier sei Platz für Alle, die das Vaterland lieben würden und das unabhängig von ihren sonstigen Ansichten. Schon die wichtigsten Parteiführer in der Zweiten Polnischen Republik wären zwar verschiedenen Idealen gefolgt, hätten aber stets auf das gemeinsame Ziel eines unabhängigen, freien Polens hingearbeitet. Nur so sei es möglich gewesen, sich gegenüber Deutschen und Russen zu behaupten. Die größte Ehre gebühre den getöteten Soldaten der polnischen Republik, deren Vorbild zeige, wie ein souveränes Polen erreicht worden sei.[2] Duda konkretisierte diese Aussage u.a. auf einer Veranstaltung in Mosina bei Posen am 4. Januar 2019, wo er vor einer Pfadfindergruppe und weiteren Gästen ausführte, dass der Großpolnische Aufstand die Stärke der Tradition des Polentums („polskość“) zeige. Allein die 100 Gräber der Freiheitskämpfer in Mosina würden demonstrieren, dass der Kampf um ein freies Polen auch in der Provinz ausgetragen wurde und ohne die jahrzehntelange Vorarbeit polnischer Vereine nicht zum Sieg geführt hätte. Es bestünde kein Zweifel daran, dass in Preußen Polen gelebt hätten, die die Germanisierung bekämpften und ohne den Aufstand wäre Großpolen wohl in einem Plebiszit geteilt worden, so wie später Schlesien. Seiner jugendlichen Zuhörerschaft pries Duda als Vorbild einen kaum 20-jährigen Aufständischen an, der bei Szubin im Kampf gegen deutsche Panzer gefallen sei. „Cześć i Chwała Bohaterom! Cześć i Chwała Powstancom Wielkopolskim!“ („Ehre und Ruhm den Helden! Ehre und Ruhm den Großpolnischen Aufständischen!“), schloss Duda ab.[3]
Die Gedenkfeierlichkeiten zum Großpolnischen Aufstand waren schon im kommunistischen Polen alljährlich von hoher Bedeutung und damit keineswegs nur eine Sache des hundertjährigen Jubiläums. Die PiS-Regierung legt jedoch verstärkten Wert auf das Erinnern dieses Ereignisses und erklärte 2021 den 27. Dezember zum „Nationalen Gedenktag“.[4] Die grundlegende nationalpatriotische Botschaft und die militärische Inszenierung mit hohen Vertretern der Generalität blieb unabhängig davon über die Jahre (für deutsche Augen erstaunlich) konstant, wie ein Blick auf die Gedenkrede von Dudas liberalkonservativem Amtsvorgänger Bronisław Komorowski (PO) zum 95. Jahrestag des Aufstandes zeigt, auch wenn er weniger Pathos in seine Ansprache legte als Duda.[5] Auf militärische Analogien verzichtete Komorowski jedoch nicht. Schon 2010 – damals noch als Parlamentspräsident – bezeichnete er den Aufstand als Teil des längsten Krieges der jüngeren europäischen Geschichte („najdłuższą wojną nowoczesnej Europy“).[6] Diese Anspielung auf den Titel einer populären Fernsehserie aus kommunistischen Zeiten, die die polnische Nationalbewegung in Posen thematisierte, verwendete auch Duda in seiner Posener Gedenkrede am 27. Dezember 2019.[7] Es ist zu erwarten, dass diese soldatisch-patriotische Art von Gedenken in absehbarer Zeit beibehalten wird, da wesentliche Unterschiede zwischen der oppositionellen PO und der regierenden PiS in dieser Frage nicht erkennbar sind.
Ein kritisch-reflektierender Blick auf dieses eher ideologisch als historiographisch geprägte Narrativ lässt jedoch einige Fragen aufkommen. Zunächst einmal ist aus deutscher Perspektive auffällig, dass auf polnischer Seite die Novemberrevolution primär als Moment einer nationalen Schwäche Deutschlands interpretiert wird, den auszunutzen moralisch absolut gerechtfertigt war. Die hiervon ausgehende Demokratisierung Deutschlands interessiert offenbar nicht. Derselben Logik entspricht der Umstand, dass der Bruch internationalen Rechtes durch die Posener Aufständischen – namentlich des Waffenstillstandes vom 11. November 1918, der den Bestand der deutschen Ostgrenze bis zu den Friedensverhandlungen garantierte, die wiederum auf dem Wiener Kongress 1815 international anerkannt worden war – weder in Gedenkreden noch der polnischen Geschichtsschreibung problematisiert wird. Und das, obwohl der Aufstand aus einer militärischen Perspektive kaum als Erfolg gedeutet werden kann und sich insofern die Frage aufdrängt, ob er nicht mehr geschadet als genutzt hat. Eine Aufspaltung der Provinz gab es – anders als Duda angibt – ja sehr wohl, wobei der mehrheitlich deutschsprachige Rest als Grenzmark Posen-Westpreußen Teil der Weimarer Republik blieb. Was der Aufstand – nüchtern betrachtet – erreichte, war lediglich eine Vorziehung des erwartbaren Ausganges des Friedenskongresses um wenige Monate. Problematisch ist auch die Darstellung der deutsch-polnischen Beziehungen als ununterbrochene Linie der Gewalt und des Konfliktes, da hiermit die Möglichkeit auf Verständigung ausgeschlossen wird, und dies implizit auch für die Gegenwart. Angesichts des Umstandes, dass das aktuelle polnische Gedenken an die Staatsgründung starke Kontinuitäten zur (national-)kommunistischen Gedenktradition aufweist, ist es nicht verwunderlich, dass in den heutigen Veranstaltungen jegliche Bezüge auf „Europa“, „Demokratie“ oder auch nur den deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag völlig zu fehlen scheinen.
Eben diese Konfliktzentrierung ist aber nicht alles, was die historische Erfahrung der Novemberrevolution in Polen ausmacht. Deutsche Soldatenräte in Warschau und andernorts solidarisierten sich damals rasch mit polnischen Sozialisten und gaben ihre Waffen freiwillig ab. Man teilte den Hass auf die Hohenzollern-Monarchie und sozialpolitische Forderungen wie die Einführung des 8-Stunden-Tages. Das Ende des Weltkrieges war ein gemeinsamer Anlass für Freude, die verbunden war mit der Hoffnung auf eine möglichst schnelle Heimkehr. Die Entlassung Piłsudskis aus der Magdeburger Haft war in diesem Sinne eine bewusste Friedensgeste des Rates der Volksbeauftragten in Richtung der ebenfalls sozialistisch geführten Warschauer Revolutionsregierung unter Ignacy Daszyński. Das Deutsche Reich war dementsprechend auch der erste Staat, der das unabhängige Polen offiziell anerkannte und eine kurzlebige diplomatische Vertretung in Form einer Gesandtschaft unter Harry Graf Kessler eröffnete. Ohne Piłsudskis Präsenz in Warschau, der auf seiner Reise von Kessler begleitet worden war, wäre die polnische Geschichte der Zwischenkriegszeit wohl gänzlich anders verlaufen, da es dem Marschall gelang, als breitenwirksame Autoritätsfigur akzeptiert zu werden. Die daraus folgende Tatsache, dass Polen als Staat den deutschen Revolutionären allein wegen der Freilassung Piłsudskis sehr viel zu verdanken hat, passt aber offenbar nicht in ein nationalkonservatives Geschichtsbild. Das Problem war damals (wie auch heute) der Umgang mit den innerpolnischen Konfliktlinien, welche mittels eines einigenden Feindbildes überdeckt werden soll(te). Es gibt jedoch notwendigerweise verschiedene Vorstellungen darüber, wie Polen als Nation aussieht bzw. aussehen soll. Diese Spannung lässt sich nicht permanent überdecken, sondern muss in einem demokratischen Prozess diskutiert und verhandelt werden, welcher auf lange Sicht gesehen zu einem Abbau innergesellschaftlicher Konflikte und damit zu größerer Stabilität führt.
Wenn Duda davon spricht, dass die polnischen Parteiführer der Zwischenkriegszeit trotz unterschiedlicher Ideale einem gemeinsamen Ziel gefolgt seien, ist dies höchstens in einer stark vereinfachenden Weise (als bloßer Appell) richtig. Natürlich wollten alle maßgeblichen Politiker dieser Zeit ein souveränes und in diesem Sinne freies Polen. Die innerstaatliche, politisch motivierte Gewalt, die Polen seit der Staatsgründung erlebte, wird aber in Dudas Rede komplett ausblendet. Daszyński musste nach nicht einmal zwei Wochen sein Amt räumen, weil er von Dmowskis Anhängern als vermeintlich deutschfreundlicher Verräter angegriffen wurde. Sein ebenfalls sozialistischer Nachfolger Jędrzej Moraczewski war immerhin zwei Monate im Amt, bevor er unter dem Druck rechter Straßengewalt und einem gescheiterten Putschversuch ebenfalls die Segel strich. Selbst Piłsudski wurde schon in dieser unmittelbaren Gründungsphase von rechts als „Kollaborateur“ und „Diktator“ beschimpft. Insgesamt erlebte die Zweite Polnische Republik 28 Ministerpräsidenten und damit ein Ausmaß der politischen Instabilität, welches sogar das der Weimarer Republik mit ihren 13 Reichskanzlern übertraf. Am 16. Dezember 1922 wurde schließlich Gabriel Narutowicz, der erste frei gewählte Staatspräsident Polens, von einem rechten Attentäter ermordet – ganze fünf Tage nach seinem Amtsantritt. Die auch antisemitisch motivierte Tat brachte Polen an den Rand eines offenen Bürgerkrieges und man darf gespannt sein, welche Worte Präsident Duda anlässlich des hundertsten Jahrestages des Mordes wählen wird – falls es überhaupt zu einer zentralen Gedenkrede kommt. Die Geschichte der ersten polnischen Demokratie endete damit, dass Piłsudski im Mai 1926 gegen das Kabinett des Bauernführers Wincenty Witos putschte, der die Unterstützung des rechten Lagers und speziell Dmowskis genoss. Dessen Traum eines ethnisch homogenen, von den zahlreichen Minderheiten (Ukrainer, Deutsche, Juden, Weißrussen etc.) gesäuberten Polens teilte der Marschall nicht und Dmowskis Anhänger wurden in der Folgezeit mit zunehmend autoritären Mitteln bekämpft. Polen als nach außen freie Nation, aber ohne Freiheit nach innen war das Ergebnis dieser Kämpfe der 1920er Jahre.
Mit dieser sicherlich nur groben Einordnung wird etwas verständlicher, warum die polnische Gedenktradition in Bezug auf die Novemberrevolution so gänzlich anders ist als in Deutschland. Nicht demokratischer Aufbruch, sondern innerer wie äußerer Krieg stehen im Zentrum der historischen Erfahrung. Aus wissenschaftlicher Perspektive bleibt es mir übrig, narrative Differenzierungen einzufordern, sodass das Überdenken auch langwährender Gedenktraditionen möglich bleibt. Der Weg zu einem gemeinsamen Gedenken ist jedoch zweifelsfrei noch weit, sofern dieses überhaupt jemals umgesetzt werden könnte.
Dass ein solcher Dialog aber notwendig ist, zeigt ein abschließender Blick auf die weiteren Verflechtungen der deutschen und der polnischen Geschichte nach 1918. Die bewaffneten, meist paramilitärisch ausgetragenen Kämpfe in Oberschlesien zwischen 1919 und 1921 wurden von beiden Seiten mit großer Brutalität geführt. Zahlreiche deutsche Freikorpskämpfer radikalisierten sich in diesem Kontext und der Mythos um die siegreiche Schlacht am Annaberg blieb bis weit in die zweite Nachkriegszeit einer der Kristallisationspunkte der rechtsradikalen Bewegung in Deutschland. Im parallel hierzu verlaufenden Krieg zwischen Polen und der Sowjetunion 1919–21 erklärte sich Deutschland für neutral, was den Effekt hatte, dass westliche Waffenlieferungen nicht über den direkten Landweg an die polnischen Streitkräfte geschickt werden konnten. Selbst demokratische Gallionsfiguren wie Reichskanzler Joseph Wirth oder der langjährige Außenminister Gustav Stresemann erwarteten eine klare militärische Niederlage des polnischen „Saisonstaates“ und hegten den Hintergedanken die deutsche Ostgrenze möglichst schnell wieder zu revidieren. (Speziell Stresemann ist daher bis heute ein rotes Tuch in Polen.) Als die lang erhoffte Grenzrevision 1939 von den Nationalsozialisten mit Brachialgewalt umgesetzt wurde, machte die Gestapo gezielt Jagd auf ehemalige Posener Aufständische, die massenhaft ermordet wurden. Ein knappes Jahr zuvor hatte die SS in der sogenannten „Polenaktion“ polnische Staatsbürger jüdischen Glaubens abgeschoben, um die polnische Regierung unter Druck zu setzen. Diese ließ einen Teil der Geflüchteten unter menschenunwürdigen Bedingungen im westlichen Grenzgebiet Polens internieren, bevor sie zurück nach Deutschland geschickt wurden. Aus Rache für die Behandlung seiner Familie ermordete der 17-jährige Herschel Grynszpan am 7. November 1938 den deutschen Botschafter in Paris, was vom NS-Regime als Rechtfertigung für die anschließenden antisemitischen Novemberpogrome genutzt wurde. Im Nachkriegspolen kam es 1946 zum Pogrom von Kielce, der ein Fanal dafür war, dass nicht nur Deutsche, sondern auch die überlebenden Juden nicht länger in Polen erwünscht waren. Dmowskis Vision eines ethnisch homogenen Polens wurde ausgerechnet von Stalin in die Realität umgesetzt.
Im Angesicht der hier skizzierten katastrophalen Spirale eskalierender Gewalt sollte aber nicht unerwähnt bleiben, dass spätestens ab den 1950er Jahren wieder vereinende Erfahrungen gesammelt wurden. Auf den Volksaufstand in der DDR am 17. Juni 1953 folgte in Polen drei Jahre später ein antikommunistischer Volksaufstand. Ebenfalls im Juni – und noch dazu in Posen. Beide Ereignisse wurden von den jeweiligen kommunistischen Führungen brutal niedergeschlagen und als „faschistisch-imperialistisch“ diffamiert. Der Freiheitsdrang der Menschen Mittel- und Osteuropas führte 1989 schließlich zu den Friedlichen Revolutionen, wobei der sogenannte „Runde Tisch“ in Polen den Anfang machte. Diese und andere Verflechtungen im Guten wie im Schlechten sind keine Zufälle, sondern Resultat einer unmittelbaren Nachbarschaft. Gleichwohl entwickelte sich die Demokratie in Ostdeutschland und der Dritten Polnischen Republik erkennbar unterschiedlich. In Polen kam es kaum zu einem Elitenaustausch und der insgesamt geringere Wohlstand ließ politische wie soziale Konflikte in größerer Schärfe aufeinandertreffen. Während (Ost-)Deutschland seit 1990 von nur drei Kanzlern und einer Kanzlerin regiert wurde, sind es in Polen ganze 14 Ministerpräsidenten und drei Ministerpräsidentinnen. Dies zeugt erneut von einer im Vergleich zu Deutschland niedrigeren politischen Stabilität. Andererseits erlangt mit Hanna Suchocka schon 1992 erstmals eine Frau das wichtigste Regierungsamt Polens. Deutlich früher als im vermeintlich besonders liberalen Deutschland.
Diese Personalie erinnert daran, dass ein relativer Mangel an Stabilität auch Chancen eröffnen und mehr Flexibilität mit sich bringen kann. Ein gemeinsames Erinnern sollte es dementsprechend vermeiden voreilig Werturteile zu fällen, welche die legitimen Differenzen in den jeweiligen Erfahrungen zu überdecken drohen. Selbstgefälligkeit ist eine universelle menschliche Sünde, aber dennoch es ist heute mehr denn je wichtig zu fragen, wie und für wessen Freiheit es sich zu kämpfen lohnt.
Sebastian Elsbach, GEDG
[1] Eine Übersicht ist zu finden auf: URL: niepodlegla.gov.pl (z.a. 25.3.2022).
[2] Rede von Präsident Andrzej Duda zum 100. Jahrestag der Wiedererlangung der Unabhängigkeit Polens: URL: youtube.com/watch?v=Fykg-ArVlLI (z.a. 29.3.2022).
[3] Rede von Präsident Andrzej Duda in Mosina bei den Feierlichkeiten zu Ehren der Wielkopolska-Aufständischen: URL: youtube.com/watch?v=7PrQaJ8HHGo (z.a. 29.3.2022).
[4] Gedenkfeierlichkeiten in Posen zum 103. Jahrestag des Aufstandes: URL: https://www.gov.pl/web/kwpsp-poznan/nasze-powstanie-wielkopolskie (z.a. 29.3.2022).
[5] Präsident Bronisław Komorowski zum Jahrestag des Großpolnischen Aufstandes: URL: prezydent.pl/kancelaria/archiwum/archiwum-bronislawa-komorowskiego/aktualnosci/wydarzenia/prezydent-w-rocznice-powstania-wielkopolskiego,15220 (z.a. 29.3.2022).
[6] Bronisław Komorowski über den Großpolnischen Aufstand: URL: rp.pl/opinie-polityczno-spoleczne/art6880081-bronislaw-komorowski-o-powstaniu-wielkopolskim (z.a. 29.3.2022).
[7] Gedenkfeierlichkeiten in Posen zum 101. Jahrestag des Aufstandes: URL: https://www.prezydent.pl/aktualnosci/wypowiedzi-prezydenta-rp/listy/101-rocznica-wybuch-powstanie-wielkopolskie,6109 (z.a. 29.3.2022).