Initiativprogramm zur Stärkung demokratischer Identität


Teilbereich Demokratiegeschichte/Ost

Aufnahme einer Montagsdemonstration in Leipzig vor der Redaktion des SED-Organs „Neues Deutschland“, 23. Oktober 1989. Das Transparent parodiert Erich Honeckers Aussage vom August 1989: „Den Sozialismus in seinem Lauf halten weder Ochs noch Esel auf“ (Bundesbildstelle)

Die Demokratiegeschichte ist ein recht junger Zweig der deutschen Erinnerungskultur. In den vergangenen Jahrzehnten war diese vor allem durch die notwendige Aufarbeitung der beiden Diktaturen im 20. Jahrhundert geprägt, insbesondere durch die Aufarbeitung des Menschheitsverbrechens Holocaust. Diese Auseinandersetzung muss und wird weiter fortgesetzt werden. Zugleich reifte in den vergangenen Jahren die Erkenntnis, dass unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung nicht allein ex negativo begründet werden kann, aus dem „Nie wieder!“ von Diktatur und Unterdrückung. Letztlich bedeutet das eine Annäherung an die seit vielen Jahren gelebte Praxis in anderen Ländern, die ihr demokratisches Selbstverständnis historisch begründen und mit einer klaren Traditions- und Entwicklungslinie versehen.

Die deutsche Geschichte bietet dafür trotz all ihrer Brüche genügend Ansatzpunkte. Demokratie hatte es nicht leicht in Deutschland, aber sie verfügt in unserem Land über starke Wurzeln. Diese reichen von Frühformen (freie Reichsstädte, Bauernkrieg) über die Freiheits- und Demokratiebewegung des 19. Jahrhunderts (Mainzer Republik, Hambacher Fest, Revolution 1848/49), die Emanzipationsbestrebungen der Arbeiterbewegung und die Weimarer Republik bis hin zur Gründung und demokratischen Ausgestaltung der Bundesrepublik und der Demokratiegeschichte in der SBZ/DDR mit der Friedlichen Revolution von 1989. Viele der damit verknüpften Ereignisse und Personen sind in der Öffentlichkeit bislang wenig bekannt – doch seit einigen Jahren gibt es vermehrt Bemühungen, diesen Zustand zu ändern. Motor und Kristallisationspunkt dieser Entwicklung ist die 2017 gegründete Arbeitsgemeinschaft Orte der Demokratiegeschichte, der inzwischen mehr als 80 Organisationen aus dem gesamten Bundesgebiet angehören.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei seiner Rede auf dem Empfang für die Teilnehmer der Jahrestagung der AG Orte der Demokratiegeschichte im Schloss Bellevue, 8. Oktober 2021 (Bundesbildstelle)

In mehreren großen Reden hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier seit 2018 die Bedeutung der Demokratiegeschichte für unser heutiges Handeln betont und für eine intensivere Beschäftigung mit ihr geworben. In der Folge hat der Deutsche Bundestag wichtige Beschlüsse dazu gefasst, die in der Gründung der Bundesstiftung Orte der deutschen Demokratiegeschichte im Juni 2021 mündeten. Damit steht nunmehr eine Institution zur Verfügung, deren Aufgabe es ist, die Förderung der Demokratiegeschichte und von diesbezüglichen Projekten sowie die Vernetzung aller Akteure in diesem Themenfeld zu koordinieren und zu unterstützen.

Die Bemühungen um die deutsche Demokratiegeschichte sind eine gesamtdeutsche Aufgabe. Dennoch kommt ihr in Ostdeutschland eine besondere Bedeutung zu, die demzufolge auch besondere Maßnahmen erforderlich machen. Dafür gibt es folgende Gründe:

Ostdeutschland hat im 20. Jahrhundert eine viel längere Zeit der Diktatur erlebt. Dadurch sind in stärkerem Maße demokratische Strukturen, Gepflogenheiten und Traditionen in Vergessenheit geraten. Im Westen konnte nach 1945 vielfach an Erfahrungen und Netzwerke aus der Weimarer Republik angeknüpft werden, in Ostdeutschland waren diese Anknüpfungen 1989/90 kaum mehr möglich. Vor dem Hintergrund der doppelten Diktaturerfahrung braucht Ostdeutschland besondere Bemühungen um die Erforschung und den Transfer der eigenen Demokratiegeschichte.

Ostdeutschland hat nach einer kurzen Zeit der eigenständigen Demokratisierung 1990 das gewachsene demokratische System der Bundesrepublik übernommen. Der Beitritt zum Grundgesetz war eine bewusste und nachvollziehbare Entscheidung, die den günstigen Augenblick für die deutsche Einheit nutzte. Die komplette Übernahme eines entwickelten demokratischen Systems bedeutete aber auch, dass die Aufbauerfahrung verlorenging, die im Westen bis heute zur Identität der demokratischen Gesellschaft gehört. Den Ostdeutschen fehlt die Erfahrung eines langen, selbsterkämpften Demokratisierungsprozesses, wie ihn die Westdeutschen in den 50er, 60er und 70er Jahren erlebt haben. Weil der Übergangsprozess in den 90er Jahren zudem entscheidend vom Westen aus gesteuert und selbst im Osten hauptsächlich durch westdeutsch sozialisierte Verantwortungsträger gestaltet wurde, gibt es in Ostdeutschland bis heute die Tendenz, mit der Ordnung der Bundesrepublik zu hadern. Sie wird in Teilen der ostdeutschen Gesellschaft nicht als selbst erarbeiteter Identitätsrahmen angesehen, sondern als übernommenes und mit Fehlern versehenes System, das dementsprechend nicht das eigene ist.

Niederlegung der Kränze des Bundespräsidenten und des Bundeskanzlers zum 70. Jahrestag des Volksaufstandes in der DDR am Mahnmal in Berlin-Wedding, 17. Juni 2023 (Bundesbildstelle)

Die ostdeutsche Demokratiegeschichte nach 1945 findet in der bundesdeutschen Öffentlichkeit nach wie vor zu wenig Beachtung. Damit ist oftmals eine starke Abwertung verbunden, die darauf fußt, dass die Diktaturgeschichte absolut gesetzt wird. So wird auch heute oft behauptet, in der Sowjetischen Besatzungszone habe es 1945 gar keinen demokratischen Neubeginn gegeben. Der Volksaufstand von 1953 ist in der deutschen Erinnerungskultur kaum (mehr) verankert, seine Jahrestage bleiben seit der Abschaffung des Feiertages zu oft auf Kranzniederlegungen beschränkt. Die Oppositionsbewegung in der DDR wird viel zu wenig gewürdigt – und die Friedliche Revolution von 1989 nicht vordergründig demokratiegeschichtlich, sondern stark auf die deutsche Einheit fokussiert. Nicht zufällig wird sie ikonografisch immer wieder mit dem Sturz der Berliner Mauer am 9. November verbunden, obwohl es sich dabei gar nicht um ein dezidiert revolutionäres Ereignis handelt. Der bis in die Mitte der 1980er Jahre zurückgreifende Transformationsprozess findet kaum Berücksichtigung.

Die ostdeutsche Erinnerungskultur befindet sich seit 1990 in einem permanenten Nachholprozess, der auch aufgrund geringer Ressourcen und anderer Prioritäten von Überforderung gekennzeichnet ist. Neben die umfangreiche Aufarbeitung der SED-Diktatur trat zeitgleich eine Neuinterpretation der NS-Diktatur, die sich von der DDR-Geschichtspropaganda lösen musste. Zugleich waren die ostdeutschen Länder bestrebt, nach ihrer Gründung eigene Identitäten aufzubauen. Dabei wurde die einfache Lösung gesucht: Sie lag nicht in der aufwendigen Neuerzählung der jüngeren Geschichte, sondern im Rückgriff auf ältere, angeblich besser gesicherte Traditionen aus der Zeit des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Dadurch speist sich heute die Identität vieler ostdeutscher Regionen aus den Regierungszeiten absolutistischer Herrscher. Die umfassende Sanierung von Schlössern und Herrenhäusern hat diesen Trend baulich untersetzt. Eine solch einseitige Traditionsbildung führte in Verbindung mit der umfassenden Diktaturaufarbeitung zu der falschen Wahrnehmung, es habe in Ostdeutschland vor 1989 keine bedeutsame Demokratiegeschichte gegeben.

Die Defizite im Umgang mit der eigenen Demokratiegeschichte wirken auch heute noch negativ auf die ostdeutsche Gesellschaft ein. Die Vorstellung, die liberale Demokratie sei nur eines von vielen geeigneten Gesellschaftssystemen und in vielen Bereichen nicht das beste, ist in Ostdeutschland weiter verbreitet als im Westen. Die Systemfrage wird hier viel öfter gestellt, die Werte des Grundgesetzes sind bei weitem nicht so stark verankert, wie das für ein stabiles demokratisches Land notwendig wäre. Das Selbstverständnis als Deutsche bezieht sich daher in Ostdeutschland häufiger auf rein nationale, ethnische Zugehörigkeit, nicht auf eine Wertegemeinschaft. Daraus speisen sich fremdenfeindliche, antidemokratische und antimodernistische Reflexe.

Es ist daher notwendig, die Ostdeutsche Demokratiegeschichte stärker zu thematisieren und voranzutreiben, mit verhältnismäßig größeren Ressourcen und Maßnahmen als in Westdeutschland. Dafür gibt es sehr gute Voraussetzungen, denn der Osten ist einer der Hauptschauplätze deutscher Demokratiegeschichte. Es gibt also keinen Mangel an Ereignissen und möglichen Traditionslinien – vielmehr sind lediglich die Wege dorthin verschüttet. Wenn sie wieder freigelegt werden, dann können sie die demokratische Gesellschaft in Ostdeutschland stützen:

Beginnend mit Ereignissen aus der Vorgeschichte der Demokratiegeschichte, wie der Schaffung freiheitlicher Strukturen in den Städten des Mittelalters und der frühen Neuzeit (z.B. in Erfurt, Mühlhausen, Nordhausen, Chemnitz, Zwickau, Altenburg, Quedlinburg), dem Bauernkrieg (vor allem in Thüringen), den ersten liberalen Verfassungen im 19. Jahrhundert (z.B. Sachsen-Weimar-Eisenach und Schwarzburg-Rudolstadt 1816), das Wartburgfest 1817 (und die späteren Feste 1848, 1929, 1948), die Revolution 1848/49 (inkl. Märzrevolution in Berlin, Leipzig, Dresden; Dresdner Maiaufstand 1849), das Gothaer Nachparlament 1849 und das Erfurter Unionsparlament 1850, die Arbeiterbewegung (mit Kristallisationspunkten in Eisenach, Gotha, Erfurt, Jena, Leipzig), die Frauenbewegung (in Leipzig und anderswo), die Novemberrevolution mit ihrer Ereignisdichte in Mitteldeutschland, der Gründung der Weimarer Republik (mit Weimar als Geburtsort der deutschen Demokratie und Schwarzburg als Ort der Unterzeichnung der Verfassung), die demokratischen Entwicklungen in den Ländern (in Sachsen, Anhalt, Mecklenburg-Schwerin), die demokratische Gründung des Freistaates Thüringen, die erste demokratische Landesverfassung Deutschlands in Mecklenburg-Strelitz, die Rolle des demokratischen Preußens (mit Bezug auf Humboldtforum, Garnisonkirche), mit den demokratischen Widerstandsbewegungen im „Dritten Reich“ (z.B. dem Kreis um Ricarda Huch in Jena), dem demokratischen Neubeginn nach 1945 in der SBZ, über die doppelte Diktaturerfahrung in der DDR, mit dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953, der Oppositions- und Widerstandsbewegung, der Friedens- und Umweltbewegung bis hin zur Friedlichen Revolution 1989 und dem demokratischen Aufbau in den 1990er Jahren.

„Die Revolution rollt“: Reenactment des Weimarer Republik e.V. unter Beteiligung der Zivilgesellschaft im Weimarer Bahnhof anlässlich des 100. Jahrestages der Novemberrevolution, 6. November 2018 (C. Faludi)

Diese (unvollständige) Aufzählung macht deutlich: Es gibt eine ganze Reihe von Ansatzpunkten für eine stärkere Würdigung der ostdeutschen Demokratiegeschichte. Und es gibt bereits eine ganze Reihe von Einrichtungen und Initiativen, die sich den einzelnen Themen widmen. Diese gilt es gezielt zu unterstützen und zu fördern – nicht in Abgrenzung zur gesamtdeutschen Demokratiegeschichte, sondern als wichtigen Bestandteil, der aber besonderer Aufmerksamkeit bedarf. Vor diesem Hintergrund erarbeitet die GEDG einen Initiativplan, der als Grundlage dienen wird, um gezielte Maßnahmen umzusetzen.

Zugleich soll im Rahmen des Projektes ein tragfähiges „Netzwerk ostdeutsche Demokratiegeschichte“ unter dem Dach der GEDG aufgebaut werden. Ende 2024 sollen die Ergebnisse in einem zweitägigen Symposium zusammengeführt werden. Die Präsentation des publizierten Initiativprogramms ist für das Frühjahr 2025 vorgesehen.