Weimarer Forum 2021: Der 9. November – die Deutschen und ihr ›Schicksalstag‹

9. November 2021, Deutsches Nationaltheater Weimar

Eine Veranstaltung der GEDG, unter Leitung von Dr. Christian Faludi, in Kooperation mit dem Deutschen Nationaltheater und der Staatskapelle Weimar, mit einem Festvortrag von Dr. Wolfgang Niess und anschließender Podiumsdiskussion mit Juliane Niklas (Bayerischer Jugendring), moderiert von Liane von Billerbeck (Deutschlandradio)

Foto: Candy Welz für die GEDG

Als Wolfgang Schäuble in seiner Funktion als Präsident des Deutschen Bundestages am Gedenktag des 9. November 2018 die Ansprache im Parlament hielt, leitete er seine Rede mit den Worten ein: „Der 9. November ist der deutsche Schicksalstag. An diesem Datum verdichtet sich unsere jüngere Geschichte in ihrer Ambivalenz, mit ihren Widersprüchen, ihren Gegensätzen. Das Tragische und das Glück, der vergebliche Versuch und das Gelingen, Freude und Schuld: All das gehört zusammen. Untrennbar.“

Dem ist nicht zu widersprechen; im Gegenteil: Im Morgengrauen des 9. November 1848 wurde der Abgeordnete der Frankfurter Paulskirche, Robert Blum, in Wien standrechtlich hingerichtet. Die Schüsse unter Missachtung der politischen Immunität des Verurteilten zielten nicht allein auf die Brust des Freiheitskämpfers, sie zielten auch und vor allem auf die revolutionäre Masse hinter ihm, zugleich auf deren Streben nach Einigkeit und Recht und Freiheit. Am Ende scheiterten alle Bemühungen, und es sollte 70 Jahre und einen Weltkrieg dauern, bis sich die Deutschen endlich erfolgreich gegen ihre Obrigkeit stellten. Am 9. November 1918 gewannen die Aufständischen in der Reichshauptstadt Berlin die Oberhand, der Kaiser war geflohen, die Republik wurde gleich zweimal ausgerufen. Damit setzte nicht nur eine politisch-gesellschaftliche Zeitenwende ein; auch die Deutung der demokratischen Geschichte Deutschlands trat in eine neue Dimension. Von linksradikaler Seite als unvollendet gegeißelt, galt die Novemberrevolution rechten Kreisen von Beginn an derart verhasst, dass die Gegenrevolutionen unmittelbar folgten: nach Umsturzversuchen zur Errichtung von Räterepubliken 1919 begehrten  Monarchisten im Zuge des Kapp-Lüttwitz-Putsches 1920 auf, das Rad der Zeit zurückzudrehen, bevor 1923 einmal mehr am 9. November der „Führer“ der erstarkenden nationalsozialistischen Bewegung, Adolf Hitler, im Schulterschluss mit rechtsextremen Eliten des Kaiserreiches um den Weltkriegsgeneral Erich Ludendorff zum Sturm auf die Republik blies. Gegen alle Angriffe erwies sich die junge Demokratie als äußerst standhaft und wehrte sämtliche Putschversuche erfolgreich ab.

Bereits zu Beginn mobilisierte das Schlagwort von der „Judenrepublik“ rechte Kräfte zum Kampf gegen die staatliche Ordnung. Mit der erfolgreichen Zerstörung der Weimarer Republik durch ihre antidemokratischen Feinde Anfang der 1930er Jahre und auf dem Weg in die Diktatur des „Dritten Reiches“ wurde der Antisemitismus zur Staatsdoktrin. Infolge eines beispiellosen, politisch betriebenen Prozesses rassistischer Ausgrenzung ganzer Bevölkerungsteile brach sich die Gewalt im Jahr 1938 erneut an einem 9. November Bahn. Synagogen brannten, jüdische Friedhöfe wurden geschändet, Geschäfte geplündert, Juden angefeindet, gedemütigt, geschlagen, gemordet, sowie zu Tausenden in Konzentrationslager verschleppt. Der Terror war spätestens jetzt nicht nur für jeden Deutschen und jede Deutsche sichtbarer denn je geworden, er war auch eine Aufforderung zur Teilnahme – welcher nicht wenige aus der „Volksgemeinschaft“ bereitwillig Folge leisteten. Mit der Zustimmung zur und Anteilnahme bei der kompromisslosen Ausgrenzung schritt die Dynamik der Radikalisierung voran, an deren Ende mit der Shoah das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte stand. Nach dem Zweiten Weltkrieg und Millionen Toten sollte es fast ein halbes Jahrhundert, die Teilung Deutschlands in vier Besatzungszonen und die Gründung von zwei deutschen Staaten (über)dauern, bis das „schicksalhafte“ Datum im Jahr 1989 wieder mit einem herausragenden Ereignis in der Geschichte unseres Landes nunmehr positiv besetzt werden würde: Am Höhepunkt der Friedlichen Revolution mit ihren zahlreichen Bewegungen und Demonstrationen in allen Regionen der DDR fiel an diesem Tag unter der leidenschaftlichen Losung „Wir sind das Volk“ die Mauer zwischen Ost und West – was nicht nur die Deutschen und ihr zusammenwachsendes Land, sondern über Europa hinaus auch die gesamte Welt nachhaltig veränderte.

Um es mit dem eingangs zitierten Bundestagspräsidenten auf einen Punkt zu bringen: „Was für ein denkwürdiges Datum.“ Und weiter: „Gefährden wir Freiheit und Frieden nicht, niemals wieder – das ist die beständige Mahnung des 9. November, dieses Schicksalstages aller Deutschen.“ Schon vor diesen eindringlichen Worten von Wolfgang Schäuble im Jahr 2018 unterstrich der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seiner Rede unter lautem Applaus die große Bedeutung des Tages als „Meilenstein“ für die deutsche Demokratiegeschichte. Ferner verdeutlichte er die damit verbundene Aufgabe, sich an die Geschichte(n) zu erinnern, was nicht allein heißt, ihre Abgründe zu mahnen, sondern vor allem auch die demokratischen Sternstunden zu feiern. Schließlich musste er am 100. Jahrestag der Novemberrevolution feststellen, dass der 9. November 1918 wie „ein Stiefkind unserer Demokratiegeschichte“ nicht den Platz in der Erinnerungskultur hat, der ihm als Wegpunkt zum „Durchbruch der parlamentarischen Demokratie in Deutschland“ zusteht. Und das vor dem Hintergrund aktueller Tendenzen, in denen „die liberale Demokratie wieder unter Druck gerät, in denen ihre Gegner lauter und selbstbewusster werden“ sowie allerorten das Schlagwort von den „Weimarer Verhältnissen“ die Runde macht. Als ein Adressat dieser Worte möchte der Autor in voller Zustimmung zum Gesagten ergänzen: Jetzt ist die Zeit, den 9. November zum Gedenktag der Deutschen zu erklären. Schließlich trägt diesem Ansinnen auch der Abschlussbericht der Kommission „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit“ Rechnung und unterstreicht die Aktualität, indem hier unter anderem gefordert wird, „den 9. November als nationalen Gedenktag zu etablieren. Die symbolpolitische Kraft des Datums 9. November soll somit im Sinne der freiheitlich-demokratischen Grundprinzipien der Bundesrepublik stärker genutzt werden und Identifikation mit der deutschen Geschichte vermitteln.“

Selbst das notwendige Erreichen dieses Zieles würde aber alles andere als ein Ende des Prozesses der Gestaltung einer lebendigen Erinnerungskultur markieren. Mit wachsendem Abstand zu den historischen Ereignissen genügt es schließlich nicht, Jahrestage allein als Anlass für ein zunehmend ritualisiertes Gedenken zu nutzen. Es gilt vielmehr, immer wieder aufs Neue Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen, diese zu diskutieren sowie auf ihre Aktualität und Anwendbarkeit bezüglich gegenwärtiger Herausforderungen zu prüfen. Die Gesellschaft zur Erforschung der Demokratiegeschichte versucht dieser Aufgabe im Rahmen ihrer Möglichkeiten gerecht zu werden, indem sie seit dem Jahr 2021 am 9. November zum zweitägigen Weimarer Forum für Erinnerungskultur (WFE) lädt.

Aufgrund des Pandemiegeschehens war es im Auftaktjahr allerdings nicht möglich, das gesamte Forum – wie geplant – stattfinden zu lassen. Vollständig abgesagt werden musste das Kolloquium am 10. November, da kein Raum zur Verfügung stand, der unter den notwendigen Abstandsregeln genügend Gästen Platz geboten hätte. Ursprünglich vorgesehen war, unter dem Arbeitstitel „Die Gestaltung der Erinnerungskultur als Aufgabe für die Zukunft“ unterschiedliche Vertreter verschiedenster Institutionen, die sich in jeglicher Weise mit Geschichte und Vermittlung in Politik/Wissenschaft/Erziehung/Kunst/Kultur etc. auseinandersetzen, an einen Tisch zu laden, an dem sie gemeinsam darüber diskutieren, welche Aspekte der deutschen Geschichte in der heutigen Zeit wie erinnert werden sollen, um die daraus zu ziehenden Erkenntnisse für die demokratische Gestaltung der Gegenwart nutzbar zu machen. Übergeordnetes Ziel der moderierten Panels sollte sein, in einen interdisziplinären Austausch zu geraten, gemeinsam Perspektiven zu erörtern, dabei Ideen entstehen zu lassen und diese im zugleich wachsenden Netzwerk weiterzuentwickeln. Die skizzierte Veranstaltung wird im Jahr 2022 erstmals im Kongresszentrum Weimarhalle durchgeführt werden können und daraufhin jährlich wiederholt werden. Die Inhalte der Kolloquien wie auch der Festveranstaltungen im Nationaltheater werden im Anschluss in der GEDG-Schriftenreihe Beiträge zur Geschichte der Demokratie und Erinnerungskultur im Wallstein-Verlag publiziert.

Unter den gegebenen Bedingungen realisiert werden konnte bislang zumindest ein Prolog des Forums am 9. November 2021. Zu diesem dürfen auch die Aktivitäten zivilgesellschaftlicher Initiativen in Weimar gezählt werden, die von der GEDG erstmals zu einem gemeinsamen Programm gebündelt worden sind: Den Auftakt gestaltete am Mittag die Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau Dora mit ihrer jährlich abgehaltenen Gedenkfeier für die 9.845 jüdischen Männer, die nach dem Novemberpogromen 1938 in das Konzentrationslager Buchenwald verschleppt worden sind. Am Ort des Sonderlagers sprach Ran Ronen vom Zentralrat der Juden in Deutschland; in der Stiftung tätige internationale Freiwillige trugen in einer szenischen Lesung Berichte von Zeitzeugen vor; Alexander Nachama, Landesrabbiner der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen, sprach das Kaddisch. Am Nachmittag lud der Lernort Weimar e.V. zu einem zweistündigen Rundgang an Orte des jüdischen Lebens der Stadt. Anschließend bat das Weimarer Bürgerbündnis gegen Rechtsextremismus unter dem Titel „Kein Vergessen“ zur Eröffnung einer Tafelausstellung im öffentlichen Raum mit Lesung an die Kolonaden des Ensembles zwischen Kasseturm und Mon Ami. Fernerhin folgten zahlreiche Bürger dem Aufruf, zur Ehrung der Entrechteten und Ermordeten an den Stolpersteinen Kerzen aufzustellen und/oder Blumen niederzulegen. Danach rundeten die evangelisch-lutherische Kirchengemeinde Weimar und die Evangelische Studierendengemeinde das zivilgesellschaftliche Gedenken lokaler Initiativen mit einer Veranstaltung am Marstall ab; Namen von Opfern wurden verlesen, und Jugendliche der Kirchengemeinde erinnerten anhand eines Einzelschicksals daran, welches Unrecht und Leid jüdischen Mitbürgern in der Zeit des Nationalsozialismus auch in Weimar zugefügt worden ist.

Am Abend lud die GEDG zum Forum in das Weimarer Nationaltheater, das sich nicht nur als Hort für die Deutsche Nationalversammlung 1919 und damit als Symbolort deutscher Demokratiegeschichte bestens für den Rahmen eignet. In enger Kooperation mit der Intendantur und aufgrund der räumlichen Gegebenheiten sowie der musikalischen Rahmung durch Teile der Staatskapelle Weimar konnte hier der würdevollen Bedeutung des Aktes angemessen in Form einer Festrede mit flankierender Podiumsdiskussion entsprochen werden. Als Thema des Prologs stand das eingangs skizzierte „Schicksalsdatum 9. November“ selbst im Fokus. Der Historiker und Autor des Buches „Der 9. November: Die Deutschen und ihr Schicksalstag“ (Beck, München 2021), Wolfgang Niess, hielt die Ansprache. Für das anschließende Gespräch zwischen Podium und Publikum nahm neben ihm die Pädagogin Juliane Niklas vom Bayerischen Jugendring Platz. Die Moderation hatte Liane von Billerbeck vom Deutschlandradio inne. Die ebenfalls geladene Zeitzeugin und Überlebende der Shoah, Éva Fahidi, musste leider kurzfristig aufgrund einer Erkrankung absagen. Auszüge der Rede von Wolfgang Niess wie auch der anschließenden Diskussion sind auf den folgenden Seiten dokumentiert.

Christian Faludi

Éva Fahidis Platz blieb an diesem Abend leider leer. Foto: Candy Welz für die GEDG


Festvortrag von Dr. Wolfgang Niess „Der 9. November. Die Deutschen und ihr ‚Schicksalstag‘“

Festvortrag von Dr. Wolfgang Niess. Foto: Candy Welz für die GEDG

Der 9. November ist ein ganz besonderer Tag für uns Deutsche. Es ist so viel passiert an diesem Tag des Jahres. Die meisten werden hier in Weimar beim Stichwort 9. November wohl an den des Jahres 1989 denken, an den Fall der Mauer, den ja kaum einer je für möglich gehalten hat. Einen dauerhaften Platz hat auch der 9. November 1938. Bei grauenvollen Pogromen wurden damals Synagogen angezündet und zerstört, jüdische Geschäfte wurden verwüstet und jüdische Deutsche misshandelt und ermordet. Aber am 9. November ist im 20 Jahrhundert noch viel mehr wirklich Einschneidendes geschehen. 1918 wurde in Berlin am 9. November die Republik ausgerufen. Die siegreiche Novemberrevolution hat die Monarchien in Deutschland weggefegt und den Grundstein gelegt für die erste deutsche Demokratie, die man dann später „Weimarer Republik“ genannt hat. Dieser 9. November 1918 ist lange in Vergessenheit geraten, aber in jüngster Zeit wird er wieder entdeckt. Fünf Jahre nach der Ausrufung der Republik hat Adolf Hitler dann seinerzeit in München am 8. und 9. November 1923 einen Putsch unternommen, um diese Republik zu beseitigen, die er so sehr gehasst hat. Auch dieser Putsch sollte – mit all seinen Begleitumständen – nicht Vergessenheit geraten. Und schließlich gehört in den Kontext des 9. Novembers nach meinem Urteil auch das Attentat des Schreiners Georg Elser, der 1939 mit seiner Bombe im Münchner Bürgerbräukeller den Versuch unternommen hat, Hitler und die führenden Köpfe des Nazi-Regimes zu töten.

Schon seit Jahren hatte ich mir vorgenommen, eine Geschichte des 9. Novembers zu schreiben, und ich bin sehr froh, dass sie jetzt bei C.H. Beck in München erschienen ist. Es ist das erste Buch über den 9. November, das nicht nur auf die spektakulären Ereignisse schaut, sondern den 9. November als Ganzes in den Blick nimmt, als Tag mit einer eigenen Geschichte. Dieses historische Eigenleben beginnt 1919. Seither wird mit Erinnerungen und Rückblicken am 9. November immer auch Politik und speziell Geschichtspolitik gemacht. Ausgangspunkt dafür ist die Novemberrevolution 1918. Die entwickelt sich am Ende eines langen und schließlich verlorenen Krieges aus einem Aufstand von Matrosen und rollt dann wie eine Welle vom Norden her über das Deutsche Reich. Matrosen, Arbeiter und Soldaten bringen innerhalb weniger Tage die Monarchien zu Fall und übernehmen die Macht. Am 9. November ruft dann in Berlin der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann die Republik aus. Der Chefredakteur des Berliner Tageblatts, Theodor Wolff, spricht in seinem Leitartikel von der „größten aller Revolutionen“, die das Kaiserreich weggefegt habe. Die Novemberrevolution ist in der Tat ein Meilenstein in der deutschen Demokratiegeschichte. Zum ersten Mal beginnt am 9. November 1918 der Aufbau einer deutschen Demokratie. Das Volk wählt eine Nationalversammlung, die am 6. Februar 1919 in Weimar zu ihrer ersten Sitzung zusammentritt. Zug um Zug baut sie die neue Republik auf, wählt einen Präsidenten und eine Regierung, verabschiedet eine Verfassung. Anfangs regiert eine Koalition aus Sozialdemokraten, Katholischer Zentrumspartei und linksliberalen Demokraten, die über eine Drei-Viertel-Mehrheit im Parlament verfügt, die Verfassung spiegelt die Zusammenarbeit zwischen Sozialdemokratie und demokratischem Bürgertum. Auf den ersten Blick scheint die Zukunft der Demokratie gesichert.

Aber schon im Entstehen ist die Republik mit gewaltigen Herausforderungen konfrontiert. Es geht um das schlichte Überleben, um Nahrungsmittel und Heizmaterial, es geht um die Demobilisierung des Heeres und die Umstellung der Wirtschaft auf Friedensproduktion. Die wirtschaftliche und soziale Lage ist denkbar schlecht. Es geht aber auch um grundsätzliche politische Fragen. Die radikale Linke lehnt eine parlamentarische Demokratie ab, bleibt damit aber eine kleine Minderheit innerhalb der Revolutionsbewegung. Die größere Gefahr kommt damals allerdings von rechts. Die alten Militärs verbreiten schon bald die Legende, die Novemberrevolution sei der „Dolchstoß“ in den Rücken des kämpfenden Heeres gewesen. Ohne die Revolution hätte der Krieg vielleicht noch gewonnen werden können.

Versuche, den 9. November zum Nationalfeiertag zu machen, scheitern 1919 auf Reichsebene schon in Ansätzen. Mit der politischen Rechten kann man darüber gar nicht reden, aber auch die katholische Zentrumspartei, die eigentlich zu den Trägern der Republik gehört, kann dem 9. November nichts abgewinnen. Für sie ist es auch der Tag, an dem die gottgewollte Obrigkeit von Menschenhand beseitigt worden ist. Das kann sie nicht gutheißen, auch wenn sie sich dazu entschließt, politisch am Aufbau der Republik mitzuarbeiten. Kein Feiertag auf Reichsebene also, aber überall dort, wo es linke Mehrheiten gibt, wird der 9. November zum Feiertag erklärt: in Sachsen, später in Thüringen, Braunschweig und Anhalt. Zum ersten Jahrestag der Novemberrevolution bekennen sich lediglich die Sozialdemokraten klar und vorbehaltlos zur Demokratie. Von der „größten aller Revolutionen“ ist inzwischen keine Rede mehr.

Es waren nicht nur die Extremisten von rechts und links, die gegen die Demokratie Stimmung machten. Das zeigt dann besonders anschaulich das zweite herausragende Novemberdatum, der sogenannte Hitlerputsch im Jahr 1923. Adolf Hitler erklärt am Abend des 8. November im Münchner Bürgerbräukeller die Reichsregierung in Berlin für abgesetzt und unternimmt am folgenden Tag mit etwa 2.000 Männern einen „Marsch zur Feldherrnhalle“. Dort kommt es zu einem Schusswechsel mit der bayerischen Landespolizei. 14 Putschisten und vier Polizisten werden getötet. So lernen diese Geschichte – wenn überhaupt – auch heute noch Schüler im Geschichtsunterricht kennen. Wäre das alles, bräuchte man über diesen Putsch kaum ein Wort zu verlieren. Unter Aspekten der Demokratiegeschichte ist der Kontext wichtig, und der entwickelt sich schon aus dem Kapp-Putsch heraus. In Bayern findet während dieses Putsches ein Umsturz mit Langzeitfolgen statt. Durch militärischen Druck wird die Sozialdemokratie aus der Regierung gedrängt und Gustav Ritter von Kahr zum Ministerpräsidenten gemacht. Kahr ist bekennender Monarchist, glühender Antisemit und ein entschiedener Gegner der Demokratie. Unter Kahr macht sich die Vorstellung breit, Bayern müsse zur „Ordnungszelle“ Deutschlands werden, Gegenpol zum angeblich jüdisch und marxistisch verseuchten Berlin. Alte antipreußische Ressentiments und weiß-blaue Wolkenkuckucksheime verbinden sich da zu einer brisanten Mischung. Es entstehen paramilitärische Kampf- und Wehrverbände. Der Freistaat Bayern entwickelt sich zum Rückzugs- und Aktionsraum völkischer und nationalistischer Kräfte aus ganz Deutschland. Wem anderswo der Boden zu heiß wird, der flüchtet in die „Ordnungszelle Bayern“. Hier wird die Ermordung herausragender Repräsentanten der Republik wie Mathias Erzberger oder Walter Rathenau geplant und organisiert. Die Täter werden geschützt und gewarnt.

In diesem Milieu kann auch ein Mann wie Adolf Hitler Fuß fassen und groß werden. Angesehene Münchner Familien verschaffen Hitler Gelegenheit, Kontakte zu knüpfen und den Propagandaapparat der NSDAP auszubauen. Ohne diese Unterstützung wäre Hitler ein unbedeutender Biersaalpropagandist geblieben. So aber gelingt es ihm, zu einem Faktor der bayerischen Politik zu werden, mit dem man rechnen muss, als 1923 mit dem Einmarsch französischer Truppen ins Ruhrgebiet ein entscheidendes Krisenjahr für die deutsche Demokratie beginnt. In Bayern plant der inzwischen als Generalstaatskommissar regierende Kahr, die Berliner Regierung durch ein massives Aufgebot von Bewaffneten an der bayerischen Nordgrenze unter Druck zu setzen und zum Rücktritt zu bewegen. Wenn nötig, soll mit einem „Marsch auf Berlin“ gedroht und eine nationale Diktatur erzwungen werden. Die gewaltigen bayerischen Wehrverbände, die von der Reichswehr insgeheim, aber mit Billigung der Regierung ausgebildet werden, sollen die bayerische Reichswehrdivision verstärken. Kahr steht in Kontakt zu Verschwörern im Norden. Er weiß, dass auch General von Seeckt auf eine nationale Diktatur hinarbeitet. Ende Oktober 1923 ist alles bereit zum „Losschlagen“ – doch dann beginnt Kahr zu zögern. Seeckt hat ihn dringend gebeten, noch etwas abzuwarten, versichert aber in einem persönlichen Brief, dass er mit Kahrs Zielen völlig übereinstimme. Hitler ist völlig klar, dass er ohne die bayerische Reichswehr und die bayerische Landespolizei auf verlorenem Posten stünde. Der Putsch ist gescheitert, als sich Kahr im Verlauf der Nacht von ihm distanziert. Der sogenannte Marsch auf die Feldherrnhalle am 9. November ist ein bewaffneter Demonstrationszug ohne Sinn und Verstand. Hitler verbindet damit allenfalls die vage Hoffnung, die begeisterte Zustimmung der Münchner Bürger könnte Reichswehr und Landespolizei doch noch auf seine Seite bringen. Davon aber kann keine Rede sein.

Es ist gar nicht so sehr der dilettantische Putschversuch Hitlers, an den wir heute mit Blick auf den 9. November 1923 erinnern sollten, sondern vielmehr die Politik höchster Repräsentanten des Freistaats Bayern, die im Herbst 1923 fest entschlossen waren, die parlamentarische Demokratie durch eine nationale Diktatur zu ersetzen. Die Münchner Kreise, die Hitler groß gemacht haben, verdienen unsere Aufmerksamkeit, der Antisemitismus, der in der bayerischen Hauptstadt auch ohne Hitler grassierte, die nationalistische oder monarchistische Rechte, die Hitler für ihre eigenen Ziele einspannen wollte, weil angeblich nur er in der Lage sei, die Arbeiter dem Marxismus zu entreißen und wieder für die nationale Sache zu begeistern. Der erste Versuch, Hitler vor den eigenen Karren zu spannen, endet 1923 in einem Fiasko. Der zweite Versuch 1933 in der Katastrophe. Dass ein zweiter Versuch überhaupt möglich geworden ist, verdankt Hitler auch der bayerischen Justiz.

Der gescheiterte Hitlerputsch setzt auch einen Schlusspunkt unter alle anderen Diktaturpläne. Bayern wird sich bewusst, auf welchen gefährlichen Irrweg es sich begeben hat und vollzieht eine Wende. Die Demokratie hat sich fürs erste durchgesetzt. Die Weimarer Republik stabilisiert sich, es beginnt die Phase des Aufbruchs und der Neuerungen, die „Goldenen Zwanziger Jahre“. Allgemein akzeptiert ist die Republik dennoch nicht. Das lässt sich sehr gut jedes Jahr am 9. November studieren. Nur für die Sozialdemokraten ist der Tag Jahr für Jahr ein Grund zum Feiern. Dagegen zeichnet die Presse der nationalen Rechten regelmäßig am 9. November ein Bild des Niedergangs als Folge der Demokratie. Von den Symbolen der neuen Republik könne keinerlei Begeisterung ausgehen, wird behauptet. Schwarz-rot-gold sei für sehr, sehr viele das Symbol der Revolution und des allgemeinen Zusammenbruchs. Für die Propaganda der NSDAP hat der 9. November nun zusätzliche Bedeutung. Hitler macht ihn zum Trauertag der Bewegung, an dem der „Märtyrer und Helden“ gedacht wird, die 1923 vor der Feldherrnhalle „gefallen“ seien. Ein völlig sinnloses Unternehmen deutet die NS-Propaganda zum Heldenepos um. Nach dem Machtantritt Hitlers stilisiert sie es sogar zum Opfergang, der den großen Sieg von 1933 erst möglich gemacht habe. Jedes Jahr werden nun am 8. und 9. November in München mit einer gigantischen Inszenierung die „Blutzeugen der Bewegung“ geehrt. Auf dem Königsplatz baut man Ehrentempel für sie, in denen sie angeblich „Ewige Wache“ halten.

Ausgerechnet am 9. November 1938 stirbt dann der Legationssekretär, den ein jüdischer Jugendlicher in der deutschen Botschaft in Paris mit Schüssen verletzt hat. Das bietet die Gelegenheit, einen Pogrom gegen die deutschen Juden auszulösen, den führende Nazis – allen voran Joseph Goebbels – stimmungsmäßig schon seit Monaten vorbereiten. Der 9. November bietet eine ideale Plattform, um einen solchen Pogrom als „Zorn des empörten Volkes“ zu inszenieren. Vielleicht ist es sogar die einzige im ganzen Jahresverlauf. Beim Empfang im Alten Rathaus am Abend kann Goebbels den nationalsozialistischen Unter- und Nebenführern den Auftrag zum Pogrom erteilen, ohne dass er das ausdrücklich formuliert. Hier verstehen alle, was von ihnen erwartet wird, wenn es heißt, niemand solle Gewaltmaßnahmen gegen die Juden vorbereiten oder auslösen, wenn es aber spontan zu Aktionen gegen Juden komme, müsse man ihnen auch nicht entgegentreten. Und so stürmen all die in München versammelten Nazi-Führer sofort an die Telefone und setzen das in Gang, was wir heute mit Ekel, Fassungslosigkeit und tiefster Scham nur als Rückfall in die Barbarei bezeichnen können.

Der 9. November des folgenden Jahres steht für ein anderes Kapitel, an das wir dauerhaft erinnern sollten: Weil Hitler zuverlässig jedes Jahr in München ist und am Abend des 8. November im Bürgerbräukeller vor den „Alten Kämpfern“ der Partei spricht, sieht der Kunstschreiner Georg Elser darin eine einmalige Gelegenheit für ein erfolgreiches Attentat auf Hitler und andere führende Nazis. Elser hat gezeigt, was ein einzelner erreichen kann, wenn er entschlossen ist, Diktatoren entgegenzutreten. Seine Tat ist inzwischen in der deutschen Geschichtskultur angekommen.

Auch an die Novemberpogrome wird nach dem Ende der Naziherrschaft zunächst kaum erinnert. Schon zu Beginn der Fünfzigerjahre breitet sich in der westdeutschen Gesellschaft immer stärker eine Schlussstrich-Mentalität aus. Man will sich nicht mit der Nazi-Vergangenheit und den Verbrechen beschäftigen. Das Gedenken an die Novemberpogrome bleibt den kleinen jüdischen Gemeinden und dem Engagement einzelner gesellschaftlicher Gruppen überlassen. Staatliche Organe halten sich lange Zeit sehr zurück. Es ist ein mühevoller Weg, bis am 9. November 1978 zum ersten Mal ein deutscher Bundeskanzler bei einer zentralen Gedenkfeier spricht. Dann aber rückt der Novemberpogrom immer stärker ins Zentrum des westdeutschen Gedenkens am 9. November. In meinem Buch zeichne ich diesen Prozess genauer nach.

In der DDR erinnert man zunächst vor allem an die Novemberrevolution – selbstverständlich ganz im Sinne des SED-KPD-Geschichtsbildes, nach dem die Novemberrevolution am Verrat der SPD gescheitert sei. Nur eine marxistisch-leninistische Partei hätte eine wahrhaft sozialistische Revolution erreichen können – so die Lehre der Partei- und Staatsführung. Jahr für Jahr wird dem Volk am 9. November verkündet, in der DDR seien nun die Ziele der Novemberrevolution von 1918 verwirklicht. Die Erinnerung an die Novemberrevolution dient in allererster Linie der geschichtspolitischen Legitimierung der DDR. Erst in den späten Siebzigerjahren beginnt auch die DDR nach und nach, ihre historische Verantwortung für die Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschlands anzunehmen und an den Novemberpogrom zu erinnern.

Die Friedliche Revolution in der DDR beendet dieses Kapitel der deutschen Geschichte. Der Sturz der Mauer in den späten Abendstunden des 9. November 1989 ist das Ergebnis einer Revolution. Mutige Frauen und Männer haben sich seit Monaten trotz aller Repressalien zusammengefunden und demonstriert. Am Ende fällt das Regime der SED in sich zusammen, unfähig und unwillig, Reformen durchzuführen. „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“, schreibt Michail Gorbatschow den DDR-Oberen zum 40. Jahrestag der DDR-Gründung ins Stammbuch – wenige Wochen vor dem 9. November 1989. „Wahnsinn!“ war dann das am meisten gestammelte oder freudig herausgeschriene Wort in der Nacht der Nächte vom 9. auf den 10. November. Die Bilder mit den Tanzenden auf der Mauerkrone vor dem Brandenburger Tor, mit den überglücklichen Menschen, die einfach so in den Westen und wieder zurück strömen, gehen um die Welt und signalisieren den Beginn einer neuen Epoche der Weltgeschichte.

Unmittelbar nach diesem „glücklichsten Tag der Deutschen“ kommt der Gedanke auf, den 9. November zum gemeinsamen Feiertag der beiden deutschen Staaten zu machen. Es gibt Fotos, die junge Männer zeigen, wie sie in Berlin Schilder der „Straße des 17. Juni“ überkleben und daraus die „Straße des 9. November“ machen. Von der Politik wird der Vorschlag zunächst aufgegriffen. Sofort gibt es aber auch Bedenken. Wie soll das gehen, an ein und demselben Tag den Mauerfall feiern und der Novemberpogrome gedenken. Nicht nur die Juden in Deutschland fürchten, dass über kurz oder lang die Erinnerung an die Verbrechen ins Abseits geraten könnte. Man hat sich schließlich für den frühestmöglichen Termin entschieden, zu dem nach Abschluss der bilateralen und der internationalen Verhandlungen der Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes nach Art. 23 GG erfolgen konnte. Das war der 3. Oktober 1990. Dieser Termin wurde in den Einigungsvertrag aufgenommen.

Seither haben sich die Länder, die jeweils für die Ausrichtung der Feiern zuständig sind, redlich Mühe gegeben, dem 3. Oktober Leben einzuhauchen. Aber er blieb ein bürokratisches Datum, das keine Geschichte mitbringt. Die Herzen hat der 3. Oktober nie erobert, republikanische Leidenschaft hat er nie geweckt. Wie sollte er auch. Ganz anders der 9. November, der vermutlich gerade deshalb in den vergangenen dreißig Jahren immer wieder auf sich aufmerksam gemacht hat. In diesen drei Jahrzehnten ist auch manche Befürchtung zerstreut worden, die in der Zeit der deutschen Vereinigung geäußert worden war. Das vereinte Deutschland hat die Beschäftigung mit den schlimmsten Kapiteln seiner Geschichte nicht etwa beendet. Sie gehören heute mehr als je zuvor zum Kernbestand unserer historischen Identität. Konkret auf den 9. November bezogen, heißt das: Die Freude über den Mauerfall hat das Gedenken an den Novemberpogrom nicht geschmälert. Speziell in den letzten Jahren ist es auf vielfältige Weise gelungen, an die Ereignisse des 9. November in ihrer ganzen Breite zu erinnern. Beispielhaft war in dieser Hinsicht die Gedenkstunde des Deutschen Bundestages im Jahr 2018.

Wäre es nicht ein lohnendes Ziel, den 9. November zu einem Nationalen Gedenktag zu erklären – so wie schon der 27. Januar als „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“ und der 17. Juni als „Nationaler Gedenktag des deutschen Volkes“ proklamiert wurden? Das würde dem 9. November mehr Gewicht in unserer Geschichtskultur geben und ihn als den Tag hervorheben, der mehr als jeder andere den langen, von furchtbaren Rückfällen in die Barbarei unterbrochenen, schließlich aber erfolgreichen Kampf um die Demokratie symbolisiert. An einem solchen Nationalen Gedenktag könnten in den Schulen und bei Veranstaltungen viele Geschichten vom Kampf um die Demokratie erzählt werden, Geschichten von den schrecklichen Abgründen des Nationalismus, des Rassismus und des Antisemitismus, auch Geschichten vom Widerstand in der Diktatur, Geschichten über die Gleichstellung der Frau in der deutschen Gesellschaft, Geschichten von der besonderen Verantwortung Deutschlands für die jüdischen Mitbürger und die Sicherheit des Staates Israel. Das Land könnte an einem solchen Gedenktag Jahr für Jahr und für jedermann sichtbar zeigen, wofür es steht.

Demokratie ist in diesen Jahren auch in Europa keineswegs selbstverständlich und für alle Zeiten gesichert. Sie musste erkämpft und sie muss verteidigt werden, wenn sie Bestand haben soll. Täte es unserer Gesellschaft nicht gut, sich einmal im Jahr auf vielfältige Weise und an vielen Orten mit den historischen Grundlagen unserer Demokratie zu beschäftigen und sich zu demokratischen Werten zu bekennen? Hitler hat seinerzeit den 9. November gekapert und den toten Putschisten aufs Denkmal geschrieben: „Und ihr habt doch gesiegt!“ Wäre es nicht an der Zeit, ihm jedes Jahr in aller Deutlichkeit zu widersprechen: Gesiegt haben nicht die Feinde der Demokratie, gesiegt haben die Demokraten – und das soll und wird so bleiben?


Podiumsdiskussion mit Dr. Wolfgang Niess und Juliane Niklas, moderiert von Liane von Billerbeck

Liane von Billerbeck auf dem Podium. Foto: Candy Welz für die GEDG

Liane von Billerbeck: Herr Niess hat also nicht verlangt, es soll ein Nationalfeiertag werden, sondern ein Gedenktag – aber der Feiertag der Deutschen. Frau Niklas, Sie sind in der Bildungsarbeit tätig, Sie vernetzen Jugendbildungsprojekte in Ost- und Mitteleuropa, was halten Sie von der Idee?

Juliane Niklas: Ich habe auch Ihr Buch mit viel Vergnügen gelesen, Herr Niess, und, um erst einmal ganz woanders anzufangen und dann hoffentlich wieder zu Ihrer Frage zurückzukommen: Ich gehe bei Ihnen bei ganz vielen Punkten mit. Was aber mein großes Problem ist und was wir nicht mehr weg bekommen aus den Köpfen, ist die Verknüpfung des 9. Novembers mit dem selbsterwähnten ›Schicksalstag der Deutschen‹. Ich finde beides hochproblematisch und frage mich: Wie sieht Erinnern und Gedenken heute aus? Wer sind in der lange postnazistischen aber multiethnischen Einwanderungsgesellschaft die Deutschen? Wen exkludieren wir möglicherweise aus unserem Gedenken? Was macht das Gedenken mit den Menschen, die in Deutschland leben? Wie kann sich da eine gemeinsame Erinnerung etablieren, ohne jetzt zu sagen, das ist von allen Deutschen der Gedenktag, ohne zu beschreiben, was genau oder wer genau eigentlich Deutsch ist?

Das ist der eine Punkt. Der andere Punkt ist tatsächlich dieser Begriff ›Schicksalstag‹. Geschichte ist kein Schicksal! Menschen machen Geschichte!

Wolfgang Niess: Ich muss gestehen, ich habe einen großen Fehler gemacht. Der Fehler war, aufgrund des Einwandes der Marketingabteilung des C.H. Beck Verlags die Anführungszeichen zu streichen. Ich halte – wie Sie – dieses Gerede vom ›Schicksalstag‹ für großen Unsinn. Das schrieb ich ja auch auf den ersten Seiten sehr deutlich in diesem Buch. Und ich verwende den Begriff deshalb, weil er sich so eingebürgert hat; hätte ihn aber auch am liebsten los. Und der Bundespräsident Steinmeier hatte völlig recht, als er heute im Gedenken zum 9. November ganz bündig erklärt hat: Der 9. November ist kein Schicksalstag.

Insofern bin ich auch mit dem Ziel angetreten, nicht nur auf den ersten Seiten, sondern indem ich die Zusammenhänge von 1918 bis 1939 aufzeige, deutlich zu machen, da ist gar kein Schicksal im Spiel. Das hat wirklich etwas damit zu tun, dass Menschen – also in dem Fall in erster Linie die Nationalsozialisten – Dinge planten und umsetzten. Dass 1989 dann wieder auf dem 9. November landet, das halte ich für den reinen Zufall.

Ich finde aber, gerade dadurch, dass vier Dinge enge innere Zusammenhänge haben und dann der Mauersturz noch dazu kommt, dadurch bekommt der 9. November für mich so ein gewisses Gewicht als Tag, an dem dieser Kampf um Demokratie stattfindet und das gibt den roten Faden, das gibt so eine Klammer, die es uns möglich macht, ihn, ohne dass wir ihn benennen können, das will ich nochmal deutlich sagen, zu einem Tag des Gedenkens zu machen. Man kann ihn nicht benennen als Tag der Demokratie in Deutschland, da würde natürlich zurecht jeder, der an 1938 denkt, sagen: Um Gottes Willen, das ist doch nicht der Tag der Demokratie.

Steinmeier hat heute einen Versuch unternommen, den Tag als ›Gedenken zum 9. November‹ zu bezeichnen. Und das ist absolut in Ordnung und gut, denn da hat der 9. November die ganze Ambivalenz der deutschen Geschichte in sich. Daher bin ich nach wie vor der Auffassung: Ja, an dem Tag sollten wir uns mit deutscher Geschichte beschäftigen, aber ich würde ihn nie zum Feiertag erklären. Auch das kann man nicht machen, man kann nicht feiern, dass 1938 hunderte von Juden ermordet worden sind, Synagogen brannten, um Gottes Willen, also kein Feiertag, sondern ein Gedenktag 9. November.

Liane von Billerbeck: Ich glaube, der Zentralrat der Juden hat sich heute dagegen ausgesprochen. Da gab es natürlich Widerspruch. Aber ich will nochmal auf die Frage kommen: ›Der Schicksalstag‹ oder ›kein Schicksalstag‹ der Deutschen. Wir haben vier Millionen Migrantinnen und Migranten, die also nicht Nachfahren von Tätern aus der NS-Zeit sind oder von wenigen Widerständlern aus der NS-Zeit. Wie sollen die denn mit diesem Tag umgehen?

Wolfgang Niess: Würden Sie so eine Frage an einen Bürger der USA stellen, der nicht im Land geboren worden ist, wie er mit dem Independence Day umgehen soll? Oder einem Franzosen? Die feiern selbstverständlich mit allen, die zugewandert sind, ihren Sturm auf die Bastille oder ihr nationales Fest von 1790; die Amerikaner genauso ihren Independence Day. Und jeder, der in dieses Land einwandert, wird zum amerikanischen Bürger. Meine These wäre, wer nach Deutschland kommt und in diesem Land leben will, sich dazu entscheidet, Deutscher zu werden, der muss sich auch mit der Geschichte dieses Landes beschäftigen. Die fängt nicht jedes Mal bei null an, wenn jemand neu hier einreist. Da bin ich sehr entschieden und klar!

Liane von Billerbeck: Nun sind der Unabhängigkeitstag und der Tag der Französischen Revolution ungebrochener… Ich gebe es nur zu bedenken!

Wolfgang Niess: Ja, aber ist das ein Vorteil? Ich fände es toll, wenn die Amerikaner an den Genozid an den Ureinwohnern erinnern würden, den sie vollbracht haben; wenn die Franzosen auch Algerien bedenken würden, wenn sie den Sturm auf die Bastille feiern. Also ich halte es nicht für einen Fehler, diese Gebrochenheit im Nationalen in einen Gedenktag integrieren zu müssen. Die hätten guten Grund, auch das ein oder andere aufzunehmen.

Marc Bartuschka [aus dem Publikum]: Ich möchte das unterstreichen. Ich meine, der 9. November ist ein Tag, an dem bedacht wird, wie Demokratie erkämpft werden musste, wie sie aber auch zerbrach, und bedroht worden ist. Also wenn man das soweit sieht und es nicht zu sehr einengt, dann denke ich, kann man es durchaus auch für Personenkreise, die eben nicht hier geboren sind, anschlussfähig werden. Es kommt immer darauf an, betrachten wir wirklich nur die Ereignisse oder wofür die Ereignisse in gewisser Weise auch stehen, und was, ohne dass es sich sofort wieder wiederholen kann, was für Gedenken dahinter stehen, die auch heute noch Aktualität haben.

Liane von Billerbeck: Frau Niklas, Sie befassen sich mit historisch-politischer Bildungsarbeit in Mittel- und Osteuropa, wo Erinnerungskultur oft politisch instrumentalisiert wird. Welche Beispiele aus Ländern, in denen Sie aktiv sind, kennen Sie, wo Themen noch stärker umkämpft sind sogar, als das hier bei uns gerade der Fall ist. Und vor allem: Um welche Daten geht es dort?

Juliane Niklas: Bevor ich konkret darauf antworte, möchte ich zu Bedenken geben, ob dieses Kaprizieren auf Tage uns immer hilft oder ob es nicht eigentlich ein Ereignis ist, das wir erinnern. Also ob es nicht tatsächlich ein Ereignis ist, dessen gedacht werden müsste – ohne festes Datum. Die Schwierigkeit, die ich meine, wird etwa am Tag des Kriegsendes deutlich. In Deutschland ist das der 8. Mai. Da aber die Kapitulationserklärung kurz vor Mitternacht unterzeichnet worden ist, war es in Moskau nach russischer Zeit schon der 9. Mai. Das heißt, im russischsprachigen Raum ist bis heute der 9. Mai das Kriegsende. Daran sieht man auch: Es ist eigentlich ein Ereignis, aber es gibt durch die Zeitverschiebung zwei unterschiedliche Tage, die dafür dienen. Gerade im postsowjetischen Raum – Sie hatten ja nach den umkämpften Gebieten gefragt – wenn wir nach 2014 in die Ukraine schauen und dabei sehen, dass die Spaltung zwischen Ost und West und die Hinwendung nach Russland oder eben gerade auch nicht immer deutlicher wird. Auch in der Ukraine als postsowjetischen Land war der 9. Mai immer der Tag des Sieges. Unlängst wurde dieses Datum aber geändert, sodass jetzt offiziell in der Ukraine der 8. Mai der Tag des Sieges ist. Das ist natürlich auch eine Abkehr von historisch Überliefertem, eine Abkehr von allem, was mit Russland oder sowjetisch historischer Geschichte zu tun hat, und es ist eine Hinwendung zu etwas anderem.

Liane von Billerbeck: Wenn wir uns nicht – wie Sie sagten – auf einen Tag kaprizieren, dann hätte man mit dem gleichen Recht auch nicht den 9. November vorschlagen können, sondern vielleicht den Tag, wo in Leipzig mutig Leute um den Ring gezogen sind, die Blutkonserven schon aufgefüllt waren und scharfe Munition verteilt worden ist? Das wäre ja auch so ein Ereignis, was meiner Meinung nach außerhalb Leipzigs viel zu wenig gewürdigt wird und was nicht so in den Köpfen ist wie der Mauerfall. Wie sehen Sie das? Sollte man solche Ereignisse nicht mehr hochholen?

Juliane Niklas: Eigentlich haben wir es doch immer mit einer Verkettung von Einzelereignissen zu tun, und Menschen machen ihre Geschichte, die durch intentionales Handeln herbeigeführt wird. Im Prinzip bin ich deshalb dafür, von dem Tag wegzugehen und zu sagen, da war ein Ereignis, dessen wollen wir gedenken. Ob das jetzt unbedingt mit einem speziellen Tag zusammenhängen muss, ob es nicht möglicherweise ganz andere Formen der beiläufigen oder anderweitigen Erinnerung gibt, wäre für mich eine Überlegung, für die ich jetzt noch keine Antwort habe.

Wolfgang Niess: Ich glaube, dass historisch-politische Bildungsarbeit da tatsächlich ganz anderen Gesetzmäßigkeiten folgt als dem, was sich in der Öffentlichkeit abspielt. Natürlich können wir über alles reden, wir können einen Quellentext nehmen und mit einer Seminargruppe daran arbeiten, da brauchen Sie kein Datum. Wenn Sie über Demokratisierungsprozesse reden wollen, da ist vielleicht eine Quelle sehr viel besser geeignet als ein spezifisches Datum, aber wenn Sie in einer demokratischen Öffentlichkeit auf bestimmte Dinge zu sprechen kommen wollen, dann brauchen Sie dafür Anlässe. Und Anlässe sind Ereignisse, die mit bestimmten Daten verbunden sind.

Ich habe heute sieben Interviews für Hörfunkanstalten gegeben über den 9. November und über diese Idee, den 9. November zum Gedenktag zu machen. Das wäre am 27. Juli undenkbar gewesen und das wäre am 3. Dezember unmöglich gewesen. Das wäre zu jedem anderen Zeitpunkt unmöglich gewesen. Es ist einfach verbunden mit diesem 9. November und wegen des 9. Novembers steigen auch diese ganzen Rundfunkanstalten ein. Da haben wir dann diese Veranstaltung beim Bundespräsidenten, die stattfindet, dann gibt es wirklich kleine, große Artikel dazu und so funktioniert öffentliche Aufmerksamkeit. Das sind völlig andere Gesetzmäßigkeiten als historisch-politische Bildungsarbeit. Die braucht das nicht. Aber wenn Sie auf sich aufmerksam machen wollen in dieser pluralistisch-demokratischen Gesellschaft, wenn Sie geschichtliche Entwicklungen in der Öffentlichkeit bekanntmachen wollen, und wollen, dass darüber geredet wird, dann brauchen Sie Anlässe dafür. Ohne Anlass geht nichts. Und Anlässe sind in der Regel mit bestimmten Ereignissen und Daten verbunden und das müssen dann im Übrigen auch solche sein, die tatsächlich, wenn es um deutsche Geschichtskultur geht, für Deutschland etwas bedeuten. Also Leipzig: Wunderbar, Sie haben völlig recht, der 9. Oktober in Leipzig war der Tag, der den Sieg der Friedlichen Revolution manifestiert hat. Da war den allermeisten klar, wenn jetzt nicht geschossen wird, dann wird auch danach nicht mehr geschossen. Dieser Tag hat eine ungeheure Bedeutung über Leipzig hinaus, natürlich, aber fragen Sie mal in Saarbrücken jemanden, was der 9. Oktober in Leipzig war.

[…]

Billerbeck: Ich will noch ein Thema kurz erwähnen. Hier steht ein leerer Stuhl und das ist natürlich sehr symbolisch für die abwesende Éva Fahidi, aber auch für die zunehmend abwesenden Zeitzeugen bestimmter Verbrechen des 20. Jahrhunderts, der NS-Zeit, der Shoah. Das ist ein Thema, was ja in der Erinnerungskultur, in der Erinnerungspolitik eine große Rolle spielt. Vielleicht sollten wir danach noch darüber reden und danach fragen. Ich nehme an, dass auch viele von den Jüngeren deswegen gekommen sind, um so eine Frau zu erleben, was sie jetzt heute nicht können.

Gast [aus dem Publikum]: Also wir haben heute den 9. November und sind ja auch gerade wegen des 9. Novembers hier. Und auch gerade zu der momentanen Zeit, wo ein großes antidemokratisches Gedankengut in der ganzen Welt stattfindet, man könnte da ja auch Richtung Polen schauen oder zu anderen Beispielen in unmittelbarer Nähe auch in Europa oder der Türkei oder Russland oder Ungarn auch. Das macht den Tag ja international. Sie hatten auch die Frage nach den Migranten gestellt, eigentlich kann man diesen Tag als Beispiel nehmen, auch für Ausländer. Wir hatten in der Weimarer Republik sehr stark antidemokratisches Denken und wir hatten die Reichspogromnacht, die ja auch am 9. November war. Das passt einfach extrem gut zusammen. Gerade in dieser Zeit ist es wichtig, dass man an solche Tage denkt, und auch gedenkt. Und Sie haben es auch mit den Orten angesprochen. Diese Orte sind die ganze Zeit da und man wird nur darauf aufmerksam, wenn man an diese Orte geht an einem Tag wie heute. Die Medien, die zwingen einen praktisch dazu, sich damit auseinanderzusetzen, eben weil es dieses eine Datum ist, diese kurze Zeitspanne, in der man sich die Zeit nehmen sollte, dass man an die Demokratie denkt und auch daran, was wäre, wenn wir sie eben nicht hätten.

Liane von Billerbeck: Sie haben es erwähnt. Das Illiberale, die Demokratie ist ja nicht etwas, was gottgegeben ist und was uns für immer geschenkt wird. Das sehen wir an vielen Orten der Welt. Aber weil das Beispiel Ungarn gerade erwähnt worden ist, es gibt ja auch immer Positivbeispiele. Da versammelt sich quasi nach israelischem Beispiel grade eine sehr buntgemischte politische Opposition von ganz links zu ganz rechts, die versucht, Viktor Orban im nächsten Jahr bei der Wahl abzulösen, und ich bin gespannt. Das heißt also, dass natürlich immer andere Kräfte wieder versuchen, diese versuchte Zerschlagung der Demokratie, wo die Axt an die Unabhängigkeit von Medien und Justiz gelegt wird, wieder zurückzuholen. Aber es ist eben kein Geschenk, das man für immer hat. Man muss schon was dafür tun.

Ich will nochmal zu dem Thema Zeitzeugenschaft kommen, weil Éva Fahidi ist 96 gerade geworden. Ebenso ist Margot Friedländer schon sehr alt. Beide sind Überlebende der Shoah. Die eine war in Auschwitz, die andere in Theresienstadt. Das sind die letzten, es geht noch ein paar Jahre mit ein paar wenigen überlebenden Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, das heißt, die Erinnerungsarbeit an diese Verbrechen, an die auch am 9. November erinnert wird, die wird anders werden. Ich will nicht sagen, dass sie schwieriger wird, aber sie wird anders. Vielleicht könnte man darüber noch mal reden, auch darüber, wie Gedenkstättenarbeit gemacht wird, wie Erinnerungskultur abläuft, wenn die Personen nicht mehr leibhaftig hier sitzen, sondern wir sie nur noch elektronisch hörbar oder sichtbar haben. Was verändert das? Sie von den Jungen, sind Sie auch unter anderem deshalb hergekommen, weil Sie diese Zeitzeugin sehen wollten? Bedeutet Ihnen das was? Oder reicht auch die elektronische Quelle irgendwann?

Schüler [aus dem Publikum]: Ich finde, bei Zeitzeugengesprächen, das Ganze hat immer etwas Eigenes, es ist immer eine sehr spannende Erfahrung, das mitzukriegen. Ich muss gestehen, ich war gar nicht darüber informiert, dass Sie eine Zeitzeugin hier haben. Das ist im Nachhinein natürlich sehr schade, das zu erfahren. Aber es ist so, wie es ist. Ich denke, mit dem Aussterben der Zeitzeugen, wenn man das so sagen kann, wird natürlich ein Wandel kommen. Es ist schwierig zu sagen, ob das jetzt gut oder schlecht wird. In gewisser Weise ist bei den Interviews der Zeitzeugen die Subjektivität vorhanden, die damit wegfallen würde, andererseits würde das Grauen dieser Taten, das durch die Zeitzeugen vermittelt werden kann, dadurch eben wegfallen. Ich denke, das könnte ein entscheidender Punkt sein, warum vielleicht mit der Zeit diese Taten nicht mehr so gefasst werden können wie wir sie jetzt vielleicht noch vermittelt bekommen können.

[…]

Liane von Billerbeck: Diese fehlende Zeitzeugenschaft, ich will vielleicht noch ein anderes Argument dazu bringen. Éva Fahidi hat in einem Interview gesagt, als sie das erste Mal in der Gedenkstätte Auschwitz war, habe sie gedacht, dass die Traumata der Zeit 1944/45 bei ihr wieder hochkommen würden, und tatsächlich war es eine ganz andere Erfahrung. Sie hat nämlich eine Gedenkstätte erlebt, die aufgeräumt war, die glatt war und sie sagte hinterher, hier bin ich gar nicht gewesen. Vielleicht kann dazu jemand aus dem Publikum auch etwas sagen?

Christian Faludi [aus dem Publikum]: Ich möchte in der Diskussion noch einmal ein kleines Stück zurückspringen: Es kam vorhin bereits zur Sprache, dass Menschen nicht nur Geschichte machen, sondern auch die Erinnerung daran – also die Erinnerungskultur, die deshalb nicht umsonst den Begriff Kultur im Stamm trägt. Dahinter steht ein gesellschaftlicher Prozess, durch den sich Erinnerung wandelt, wie sie sich schon immer gewandelt hat und sich auch immer wandeln wird. Das sehen wir am Beispiel des 9. Novembers etwa am Versuch der Etablierung in der Weimarer Republik, einen Feiertag daraus zu machen, der ja mehr oder weniger immer wieder scheitert. Und wir sehen das jetzt an dem Versuch, einen Gedenktag daraus zu machen und ihn damit auf eine Verknappung zu reduzieren, eben auf ein Datum. Diese Transformation ist nicht mehr und nicht weniger als ein Vehikel, das Menschen brauchen, um Erinnerung zu zelebrieren oder überhaupt verwenden zu können, um sie weiter zu transportieren.

Ich war vor ein paar Wochen, das ist vielleicht ein ganz gutes Beispiel dafür, worauf ich hinaus will, bei einer Veranstaltung mit Aleida Assmann – der ›Grand Dame der Kulturwissenschaft‹, wenn man das so sagen möchte. Und sie erzählte uns, dass sie am Tag der Enttarnung des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU) am 4. November 2011 gedacht hatte, jetzt würde ein Datum, ein Tag fixiert, an dem nichts mehr so sein wird wie vorher, und an den wir uns in Deutschland jedes Jahr zurückerinnern werden. 10 Jahre später saß sie nun bei uns und musste feststellen: »Da hab´ ich mich total getäuscht. Das hat nicht funktioniert, das ist nicht passiert.« Ich selbst habe mir im Anschluss einige Gedanken darüber gemacht, warum das so war, oder besser: warum das eben nicht passiert ist. Meine Antwort heute ist relativ schlicht: Dieses Datum, dieses Ereignis ist nicht anschlussfähig gewesen, um einen großen gesellschaftlichen Konsens zu produzieren, auf den man sich mehrheitlich hätte einlassen können. Denn die betroffene Gruppe, ich spreche von den Opfern des NSU, das waren fast ausschließlich Migranten, die offenbar von weiten Teilen der Gesellschaft vordergründig auch als solche betrachtet werden, und eben nicht als vollständig zugehöriger Teil. Und deshalb hat dieser 4. November 2011 heute vor allem für die migrantische Minderheit der Deutschen eine tiefere Bedeutung, der sie mit allerlei Aktionen zu begegnen versuchen.

Vor diesem Hintergrund, dem worüber wir hier diskutieren und dem, was wir heute Abend hören, schwingt dasselbe Bedürfnis mit, den 9. November als ein Erinnerungsdatum festzuhalten und daraus etwas zu machen. Und das braucht es auch in der Mehrheit der Gesellschaft, um eine Kultur der Erinnerung erst einmal herzustellen und anschließend lebendig zu halten. Das ist der springende Punkt: Wir benötigen den gesellschaftlichen Prozess. Das funktioniert nicht von allein, das funktioniert nicht durch die Festlegung auf ein Datum, dazu reicht auch leider nicht der Ort, sondern es kommt immer darauf an, was die Menschen am Ende daraus machen. Auf welche ritualisierte Sinnstiftung sie sich im Prozess immer wieder einigen können. 

Liane von Billerbeck: Diese Tage nach der Selbstenttarnung des NSU haben bei vielen zu einem großen Entsetzen darüber geführt, dass sie so ein Staatsversagen in der Bundesrepublik erleben müssen. So gesehen hätte es auch ein Datum sein müssen, was eine Schockwirkung hat und trotzdem hat es, wie Aleida Assmann sagte, nicht dazu geführt.

Sabine Rühl [aus dem Publikum]: Ich möchte eine kurze Anmerkung machen zu den scheidenden oder weniger werdenden Zeitzeugen und Zeitzeuginnen. Ich meine, dass wir auch ohne sie gut rekonstruieren können, was passiert ist. Was aber dann fehlen wird, ist diese beeindruckende Erfahrung, und auch dass die Menschen zu uns kommen, und mit ihnen die Kraft der Versöhnung in unsere Mitte kommt. Das wird uns wirklich fehlen, weil ich glaube, das ist wirklich ein wichtiges Erlebnis, was uns auch wieder mehr Kraft gibt, sich mit unserer Geschichte auseinanderzusetzen.

Wolfgang Niess: Ich habe heute Margot Friedländer gehört, wie sie erzählt hat, wie sie diesen 10. November erlebt hat. Das war ungeheuer eindrucksvoll. Wie diese hundertjährige Frau da auf der Bühne sitzt, an diesem Tisch auf ihrem Stuhl und dann da vorträgt, wie sie diesen 10. November ganz persönlich erlebt hat. Sowas hinterlässt Spuren in einem. Das ergreift einen. Deshalb ist es nach meiner Überzeugung ein Verlust, wenn wir diese Zeitzeugen nicht mehr haben, die so reden können. Aber wir sollten zugleich über die zeitliche Distanz von dem Ereignis nachdenken, worin eine große Gefahr liegt. Es gab eine neue Forsa-Umfrage zum Stichwort 9. November. Und was mich sehr erstaunt hat dabei war, dass sich nur 13 Prozent der Bevölkerung als erstes an die Pogromnacht erinnern, wenn sie den 9. November hören. Die weitaus überwiegende Mehrheit sagt Mauerfall, gerade bei den Jüngeren. Die Pogromnacht ist nicht mehr so stark im Vordergrund, die Novemberrevolution natürlich überhaupt nicht, die spielt gar keine Rolle, weil sie viel zu jung sind. Ich finde, solche Dinge sollten uns zu denken geben und diese Dinge sollten auch, mit Verlaub, dem Zentralrat der Juden zu denken geben, bei dem, was er momentan macht. Der 9. November ist zurzeit ein völlig ungeschützter Tag. Wenn wir Lust haben, uns zu erinnern, erinnern wir uns. Wenn wir keine Lust haben, erinnern wir uns nicht. Wenn wir über Gedenktage reden, reden wir auch über die Distanz von 50 Jahren vielleicht. Der Zentralrat der Juden müsste sich heute Gedanken darüber machen, ob es nicht sinnvoll wäre, einen Gedenktag 9. November zu etablieren, bei dem auch dadurch, dass er als Gedenktag ausgewiesen ist für 1938/1989 garantiert ist, dass über 1938 geredet wird. Er hat keine Garantie dafür, dass in 50 Jahren die Erinnerung an die Novemberpogrome noch so stark sein wird, dass die Menschen sich freiwillig und ohne, dass es eines Anstoßes bedarf, zusammenfinden werden, um an die Novemberpogrome zu erinnern. Also ich finde, da muss man sehr aufpassen in dem Umgang mit geschichtspolitischen Aspekten und mit der Erinnerungskultur. Wir können uns Mühe geben, Dinge zu erinnern und ihnen einen Stellenwert zu geben. Wir schaffen die Erinnerung selbst, aber sie verliert sich gelegentlich auch selbst.

Ich finde das Beispiel mit dem NSU gerade auch sehr wichtig. Man hat die theoretische Vorstellung vom Staatsversagen. Und es müsste doch dazu führen, dass die ganze Republik sich 20 Jahre lang an dieses Staatsversagen erinnert. Tut sie jedoch nicht. Auch wenn wir uns große Mühe geben: Tut sie nicht! Also von daher: Wir müssen die Daten sehr gezielt wählen und sehr intensiv darüber nachdenken, wie wir es schaffen, dass sie auch eine gewisse Integrationswirkung und eine gewisse geschichtspolitische Bedeutung erreichen.

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