Krisenjahr 1923


Teilbereich Regionalgeschichte


Das Jahr 1923 steht bis heute für eine der größten Herausforderungen der Weimarer Republik. Zu keinem anderen Zeitpunkt zwischen 1918 und 1933 erfolgen die Angriffe derart massiv und nahezu zeitgleich auf so vielen Ebenen, sieht sich der junge Staat mit so zahlreichen existenzbedrohenden Krisen konfrontiert.

Da ist der außenpolitische Druck, der in der Besetzung ausgedehnter Gebiete gipfelt, als am 11. Januar französische und belgische Truppen aufgrund ausbleibender Reparationsleistungen in das Ruhrgebiet einmarschieren. Die Reichsregierung propagiert passiven Widerstand, den die Besatzer mit Massenausweisungen der Arbeitsverweigerer zu brechen suchen. Sie stützen separatistische Gruppen im Rheinland, die Amtsgebäude besetzen und sich Schießereien mit Polizei und nationalistischen Milizen liefern. Im Versuch die im passiven Widerstand leidenden Arbeitnehmer und Unternehmen zu stützten, ruiniert die Reichsregierung in diesem „Ruhrkampf“ die ohnehin angeschlagene deutsche Währung, eine kaum vorstellbare Inflation ist die Folge. Reichsweit sterben dutzende Menschen bei blutigen Hungerunruhen. Was lange über die unmittelbare Krise hinaus bleibt, ist die Erinnerung an wirtschaftliche und soziale Not, die im kulturellen Gedächtnis bis heute nachwirkt. Zudem heizt die Not auch innenpolitische Konflikte an. Die KPD liebäugelt mit einem revolutionären „deutschen Herbst“. In letzter Sekunde erkennt man die Ausweglosigkeit der Pläne und bläst den Aufstand ab – in Hamburg schlägt die örtliche Partei unter Ernst Thälmann am 23. Oktober dennoch los. Zeitgleich lässt die Reichsregierung Truppen in Sachsen und dann auch in Thüringen einmarschieren, um eine Beteiligung der KPD an den Landesregierungen zu beenden. Die „Reichsexekution“ gegen Sachsen und der Truppenaufmarsch in Thüringen verweist die Linksradikalen in ihre Grenzen. Doch er kostet durch das brutale Vorgehen der Truppe viel Blut, schürt verständlicherweise Hass und Misstrauen gegen einen Staat, der nur bei tatsächlichen oder vermeintlichen linken Bedrohungen hart, oft viel zu hart durchgreift – Rechtsradikale aber meist mit Samthandschuhen anfasst. Dies zeigt sich in München, wo die bayerische Landesregierung das Reich offen herausfordert. Als dieses den nicht mehr tragfähigen Ruhrkampf abbricht, wird in Bayern eigenmächtig der Ausnahmezustand verhängt und Gustav Ritter von Kahr zum „Generalstaatskommissar“ mit nahezu diktatorischen Vollmachten ernannt. Im rechten Lager hofft mancher schon auf einen „Marsch auf Berlin“. Besonders ein rechtsradikaler Volkstribun gefällt sich immer mehr in der Pose des Einpeitschers – Adolf Hitler. Dabei bringen sich seine Nationalsozialisten durch ihre aufgepeitschte Rhetorik selbst in Zugzwang. Berauscht von der vermeintlichen Stärke und im Glauben, nicht mehr zurückzukönnen, wagen sie am 8. November den Staatsstreich. Doch ihr erzwungenes Bündnis mit den rechtsbürgerlichen Kräften in München erweist sich als wenig tragfähig. Am „deutschen Schicksalstag“, dem 9. November, endet ein letztes Vabanquespiel mit dem Marsch zur Feldherrnhalle im Kugelhagel der bayerischen Landespolizei.

Das Rheinland, die Stadt Hamburg, das sächsisch-thüringische Mitteldeutschland und Bayern stehen jedes für sich für schwere Herausforderungen der deutschen Demokratie im Jahr 1923. Zusammengenommen sind sie – wiewohl nur ein Teil der Krisen dieses Jahres – eine tödliche Bedrohung. Und doch kann die Republik diese Krisen bewältigen, nicht zuletzt, weil an der Staatsspitze und in den meisten Landesregierungen Akteure am Werk waren, die sich entschieden für ihren Erhalt einsetzten. Das Überleben der ersten deutschen Demokratie ein Wunder oder einen Glücksfall zu nennen, wäre deshalb grob ungerecht gegenüber jenen, die sich vor 100 Jahren erfolgreich für die Demokratie eingesetzt haben. Ihr Verdienst ist es, dass der Republik noch einmal neun weitere Jahre vergönnt sind. Und obgleich am Ende die Weimarer Republik zerstört wurde, zerstört auch von jenen, die geschworen hatten sie zu verteidigen, ist es nur angemessen neben den Fehlern und den Krisen auch an die beeindruckenden Leistungen, Errungenschaften und Widerstandskräfte zu erinnern.

Die GEDG will durch Veranstaltungen in den ehemaligen Brennpunkten einen Beitrag dazu leisten, die Gefahren für die Demokratie, aber auch ihre bemerkenswerte Widerstandsfähigkeit wieder stärker ins Bewusstsein zu rufen. Das Jahr 2023 eignet sich dafür, wie wenige andere.