Verfassungsstädte Frankfurt am Main – Weimar – Bonn


Teilbereich Verfassungsgeschichte

Das demokratische System unseres Staates beruht auf einer langen Verfassungsgeschichte. Besonders prägend waren die Frankfurter Paulskirchenverfassung 1849, die Weimarer Reichsverfassung 1919 und das Bonner Grundgesetz 1949. Diese drei Verfassungen zeigen wesentliche Entwicklungspunkte unserer heutigen Demokratie und unserer deutschen Geschichte. Das Grundgesetz, seit mehr als 70 Jahren bewährt, fußt dabei auf Entwicklungen, die weit ins 19. Jahrhundert reichen. Seine Verfasser schöpften aus den Erfahrungen mit den Vorgängerverfassungen. Die drei genannten weisen starke Bezüge untereinander auf, in Teilen sind sie wortwörtlich identisch und verdeutlichen auf diese Weise die Entwicklung unseres Demokratiebegriffs.

Beschäftigt man sich mit der Frankfurter Reichsverfassung, so fällt der Blick unweigerlich auch auf die ereignisreichen Jahrzehnte davor: 1815 erfuhren die deutschen Länder eine Neuorganisation – der Deutsche Bund entstand als Staatenbund aus sicherheitspolitischen Interessen und bildete somit einen erstmals lockeren Verbund der deutschen Länder, wenn auch noch keine juristische oder wirtschaftliche Gemeinschaft geschaffen wurde. In dieser Verbindung dominierten die größten Mitglieder Österreich, Bayern und Preußen, doch auch von keiner anderen Seite wurde die Erweiterung des Deutschen Bundes hin zu mehr Kompetenzen oder Verbindlichkeiten angestrebt. 1848 entwarf der Siebzehnerausschuss des Bundestages den sogenannten Siebzehnerentwurf, welcher eine Verfassung mit einer Bundesregierung und weiteren Organen vorsah. Nahezu zeitgleich wählte die durch Liberale und Demokraten ausgerichtete Heidelberger Versammlung sieben Teilnehmer für ein Vorparlament in Frankfurt, dessen Fünfzigerausschuss den Bundestag bis zur Nationalversammlung begleiten sollte. Uneinigkeit zwischen den beteiligten Parteien und Widerstände der Einzelstaaten waren schlussendlich der Grund dafür, warum die Bundesverfassung in ihrer bisherigen Form zunächst bestehen blieb.

Im Frühjahr 1848 wurden schließlich mehrere Bundestagsbeschlüsse zur Wahl einer Nationalversammlung durch das deutsche Volk erlassen. Das Vorparlament legte bei seiner Initiative auch den Grundstein für den Begriff der Grundrechte und der verschiedenen politischen Ausrichtungen. Die während der Revolution gefassten Bundestagsbeschlüsse wurden unter dem Begriff Bundeswahlgesetz zusammengefasst. Die Wahlen selbst, die Ende April/Anfang Mai stattfanden, sollten durch die Einzelstaaten organisiert und durchgeführt werden. Ziel war die Wahl von Abgeordneten zu einer verfassungsgebenden Nationalversammlung, welche wiederum eine gesamtdeutsche Verfassung entwerfen sollte. Das Wahlrecht besaßen alle volljährigen und männlichen Deutschen, des Weiteren sah das Bundeswahlgesetz keine konkreten Vorgaben vor, sondern beschränkte sich auf allgemeine Vorschriften wie die Einschränkung der Selbstständigkeit. Die Frankfurter Nationalversammlung trat nach erfolgter Wahl am 18. Mai 1848 zusammen und schon einige Tage danach wurde der Verfassungsausschuss mit dreißig Mitgliedern gebildet, welcher Teile der Nationalversammlung und Mitgestaltende der bisherigen Verfassungsentwürfe umschloss und eine deutliche Überrepräsentation der Liberalen darstellte, was wiederum die Repräsentation der gesamten Nationalversammlung infrage stellte. Der Fokus der Abgeordneten lag zunächst auf der Ausformulierung und Priorisierung der Grundrechte. Pressefreiheit, Freizügigkeit, Vereins- und Versammlungsfreiheit sowie Glaubensfreiheit und das Vorhaben, die Adelsprivilegien zugunsten einer gesellschaftlichen Umstrukturierung abzuschaffen, finden sich in dem Entwurf. Schon Ende Dezember 1848 wurde der Grundrechtskatalog verabschiedet und in die Verfassung übernommen. Die im Folgenden behandelte groß- und kleindeutsche Frage spaltete zunächst die Lager, die Großmächte Österreich und Preußen sorgten durch kluges Taktieren für Verzögerungen und erst die eigenständige österreichische Verfassung sorgte für eine Einigung: Der Kaiser mit seinem suspensiven Veto, die Gewaltengliederung in ein Reichsoberhaupt mit Reichsregierung, einen Reichstag und ein Reichsgericht, die Ausgestaltung eines das deutsche Volk vertretenden Volkshauses und eines die Einzelstaaten vertretenden Staatenhauses und die Einführung des allgemeinen und gleichen Männerwahlrechts zur Wahl des Volkshauses des Deutschen Reiches zählen zu den bedeutendsten Errungenschaften. Verwaltung und Justiz sollten grundsätzlich in der Hand der Einzelstaaten verbleiben, jedoch bewahrte sich das Deutsche Reich eine Kompetenzerweiterung vor. Darüber hinaus sollten nicht die Politiker der Einzelstaaten, sondern lediglich die Nationalversammlung selbst die Frankfurter Reichsverfassung in Kraft treten lassen können – so geschehen am 28. März 1849: Der Präsident der Nationalversammlung und die Abgeordneten unterzeichneten die Verfassung. An dieser Stelle lassen sich Parallelen zu unserem heutigen Verfassungsverständnis finden. Die Gewaltenteilung mit der Möglichkeit, seine Grundrechte vor dem Reichsgericht einklagen zu können, Begriffe der Kompetenz-Kompetenz, die Formulierung »Bundesrecht bricht Landesrecht« und die föderale Struktur des Bundesstaates. In Rechts- und Geschichtswissenschaft gibt es jedoch unterschiedliche Ansichten über die Wirksamkeit der Reichsverfassung: Während die Befürworter die Entfaltung der Rechtswirksamkeit mit der Unterzeichnung im März 1849 erfüllt sehen, bezweifeln die Gegner eben diese und argumentieren mit den erheblichen Widerständen der Einzelstaaten.

Die Weimarer Reichsverfassung löste die 1871 in Kraft getretene Reichsverfassung des Deutschen Reiches ab. Als ein – wenn nicht sogar der – Vater dieser Verfassung gilt Hugo Preuß, linksliberaler Staatssekretär des Reichsamts des Inneren, später Reichsminister des Innern. Geprägt wurde diese Zeit der Verfassungsdebatten durch Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern der Monarchie und denen der Republik. Am 31. Juli 1919 wurde die Verfassung von der Nationalversammlung in Weimar beschlossen – 262 Stimmen dafür und 75 dagegen sprachen eine deutliche Sprache. Zwei Wochen später, am 11. August, unterschrieb Reichspräsident Friedrich Ebert das neue Grundgesetz der Weimarer Republik in der südthüringischen Sommerfrische auf Schloss Schwarzburg. Drei Tage später trat sie in Kraft, der 11. August wurde indes als Tag der Unterzeichnung der Verfassung der Weimarer Republik zum Nationalfeiertag. Die Weimarer Reichsverfassung sollte bis in die Mitte der 30er-Jahre ihre formelle Geltungskraft nicht verlieren – auch nach der »Machtergreifung« der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 änderte sich an ihrer offiziellen Geltung zunächst scheinbar nichts, jedoch erfuhr sie zahlreiche Einschränkungen durch Gesetze und Verordnungen, deren Sinn und Zweck vor allem in der schrittweisen Auflösung der verfassungsmäßigen Rechte und Vorgaben lag. Erst die »Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat« ermöglichte im Februar 1933 den Schritt zur Verfassungsänderung, deren Hinfälligkeit durch das »Gesetz über das Staatsoberhaupt des Deutschen Reiches« – gemeint ist: die Vereinigung der Ämter des Reichspräsidenten und des Reichskanzlers – am 1. August beschlossen und durch von Hindenburgs Tod einen Tag später endgültig geworden ist. Die gut zwei Wochen später stattfindende Volksabstimmung über das Staatsoberhaupt des Deutschen Reiches fand überragende Zustimmung. Die Weimarer Reichsverfassung orientierte sich inhaltlich an der Frankfurter Reichsverfassung, deutlich wird dies vor allem an ihrem Grundrechtsteil.

Nach dem Sieg der Alliierten und dem Ende des Krieges 1945 blieb die Weimarer Reichsverfassung außer Funktion. Das am 23. Mai 1949 in Kraft tretende Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland hob die Weimarer Reichsverfassung ebenfalls nicht explizit auf. Verfassungsjuristen und Historiker sind sich hingegen einig, dass durch eben diese neue und gültige Verfassung von einer Ablösung der alten ausgegangen werden muss und damit auch von einem formellen Außerkrafttreten eben dieser.

Der Parlamentarische Rat, welcher zwischen September 1948 und Mai 1949 das Grundgesetz in Bonn erarbeitete, orientierte sich wiederum an der Weimarer Reichsverfassung. Ergebnis dieser Analyse waren etliche Ähnlichkeiten (vgl. Artikel 140 GG), vor allem aber auch Unterschiede wie der Abwertung der Rolle des Bundespräsidenten im Gegensatz zum Reichspräsidenten, die Aufarbeitung der Gewaltenteilung und die starke Position des Bundesverfassungsgerichts als Kontrollinstanz eben auch der Regierungsorgane. Vor allem aber die deutliche Betonung der Bedeutung der Grundrechte durch die Positionierung eben dieser im prominenten Artikel 1 GG und die Garantie der Dauerhaftigkeit durch Artikel 19 Absatz 2 GG und Artikel 79 Absatz 3 GG veranschaulicht die Distanzierung zu dem Bestreben der Weimarer Republik, dessen Grundrechte zwar als solche bezeichnet, jedoch lediglich als Rahmensetzung für die Verwaltung und nicht für den Gesetzgeber verstanden wurden.

Neben diesen prominenten Lehren aus der Weimarer Republik wurde auch das politische System als solches grundlegend anders strukturiert. So ist die Bundesrepublik Deutschland keine Präsidial-, sondern eine parlamentarische Demokratie, die Bevölkerung wählt den Bundestag, welcher wiederum den Bundeskanzler wählt. Dem Bundespräsidenten kommt eine wie oben angesprochen repräsentative Funktion zu, während die Positionen des Bundeskanzlers und der Regierung gestärkt wurden. Doch auch die Verfassung wurde im Gegensatz zum Weimarer Grundgesetz stärker abgesichert: Neben dem als »Ewigkeitsklausel« bezeichneten Artikel 70 Absatz 3 GG müssen Verfassungsänderungen explizit sein und verfassungsdurchbrechende Gesetze verändern die Verfassung eben nicht durch ihr bloßes Bestehen. Die grundlegend föderale Struktur der Bundesrepublik und die Gewaltenteilung können nicht abgeschafft werden.

Die aufgeführten drei Verfassungen aus Frankfurt am Main, Weimar und Bonn gelten als prominente Beispiele der deutschen Verfassungsgeschichte. Dementsprechend liegt der Fokus des Fachbereichs zunächst auf eben diesen Städten, soll sich jedoch im Verlauf der kommenden Monate und Jahre auch auf weitere verfassungsgeschichtlich relevante (Neben-) Schauplätze wie Herrenchiemsee, Königstein, Offenburg, Heppenheim, Koblenz oder Schwarzburg erstrecken. Durch eine Ausweitung des Netzwerkes soll das Thema in die Breite getragen werden.

Im Jahr 2021 lag der Schwerpunkt der Arbeit darin, Kontakte in die jeweiligen Städte – vor allem Frankfurt am Main, Weimar, Bonn, aber auch nach Königsstein und Koblenz – zu knüpfen, das Projekt zu erläutern und Interesse zu wecken, sich zu beteiligen. Weiterhin stand die Recherche der deutschen Verfassungstradition unter besonderer Berücksichtigung der Verfassungen von 1849, 1919 und 1949 im Zentrum der Arbeit.

An all diesen Orten wird auf verschiedene Art und Weise an die jeweiligen Ereignisse erinnert, jedoch geschieht dieses überwiegend separat. Verfassungsstadt zu sein, hinterlässt ein Erbe und eine Verpflichtung, sich kontinuierlich mit seiner Geschichte auseinanderzusetzen und sie auch den Menschen nahe zu bringen. Das Projekt »Verfassungsstädte« verfolgt daher das Ziel, die Orte stärker inhaltlich zu verbinden und die lange Verfassungstradition Deutschlands sichtbarer zu machen. Konkret bedeutet dies, das Netzwerk zwischen den Orten zu knüpfen und zu stärken, um die Jahrestage der Verfassungsgebung gebührend mittels verschiedener Veranstaltungen sichtbar zu machen und damit den Entwicklungen und dem Erfolg der deutschen Verfassungsgeschichte letztlich auch die Aufmerksamkeit zu schenken, die sie verdient. Neben wissenschaftlichen Recherchen zur deutschen Verfassungstradition unter Berücksichtigung der aufgeführten Verfassungen und der daraus resultierenden Erstellung von Publikationen sollen in den kommenden Monaten und Jahren zunächst in Weimar (August 2022), Frankfurt am Main (März 2023) und Bonn (Mai 2024) Veranstaltungen stattfinden, die jeweils auf unterschiedliche Art und Weise (Podiumsdiskussionen, Tagungen, Abendveranstaltungen, Wanderausstellungen) sowohl das Fachpublikum, aber auch breitere Teile der Bevölkerung anspricht. Alle beteiligten Akteure haben ihre schon jetzt vielfältigen Aufgaben vor Ort – Ziel muss es also sein, sich gegenseitig zu unterstützen. Vorgesehen ist ab 2022 ein jährlich stattfindendes Treffen zwischen den Beteiligten zu implementieren.  Im Resultat soll 2024 der erste »Gesamtdeutsche Tag der demokratischen Verfassungsgeschichte« in Form einer dezentralen Großveranstaltung gefeiert werden. In diesem Jahr wird die Frankfurter Reichsverfassung 175, die Weimarer Reichsverfassung 105 und das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland 75 Jahre – dies allein ist Grund zu feiern! Durch die Verankerung der Veranstaltungen nicht nur in den jeweiligen Städten, sondern eben auch in den anderen beiden Verfassungsstädten ermöglicht eine gesellschaftliche Aufmerksamkeit, durch welche die Bedeutung, die Geschichte, die Probleme und Herausforderungen der deutschen Verfassungsgeschichte stärker in den Fokus geraten werden.