Essay

Spurensuche. Die historischen Orte des 9. Novembers

Ein Essay von Marc Bartuschka aus dem Prospect 22, Bulletin der GEDG

Der 9. November ist in der deutschen Geschichte ein Tag bedeutsamer Ereignisse, die bis heute relevant bleiben. Dies gilt besonders für die deutsche Demokratiegeschichte, steht das Datum doch für Errungenschaften und Erfolge wie für Bedrohungen und Tiefpunkte. Längst ist es unmöglich, den Tag lediglich als Chiffre für ein bestimmtes Ereignis zu sehen. Erinnerung und Gedenken sehen sich stets herausgefordert, der Ambivalenz des Datums gerecht zu werden. Ähnlich komplex und widersprüchlich präsentieren sich die Orte der mit diesem Datum verbundenen Ereignisse. Erinnerung – im Negativen wie im Positiven – verankert sich oft nicht allein an Narrativen und Deutungen, sondern zugleich an Bildern und Orten, die symbolhaft bzw. als Fokus der Erinnerung wie der Interpretation des Ereignisses dienen. Dabei kann ihre Bedeutung und Relevanz starken Konjunkturen, mitunter sogar Neudefinitionen unterworfen sein. Und so erlebten die Orte des 9. Novembers im Laufe der Jahrzehnte in Gestalt wie Bedeutung mitunter erhebliche Wandlungen.

Dies gilt in hohem Maße für das am weitesten zurückliegende, in Deutschland erinnerte Ereignis an einem 9. November: die Erschießung von Robert Blum, einem Abgeordneten des Frankfurter Paulskirchenparlaments, durch österreichische Soldaten 1848 in der Brigittenau bei Wien. Trotz parlamentarischer Immunität wegen der Teilnahme an der Verteidigung des revolutionären Wiens im Schnellverfahren abgeurteilt, verscharrte man das Opfer des Justizmordes in einem namenlosen Schachtgrab auf dem Währinger Friedhof. Die siegreiche Habsburgermonarchie war an einer ehrenden Kennzeichnung des Ortes natürlich nicht interessiert. Die Gräber der ermordeten Revolutionäre nutzten die Behörden 1859 und 1860 zur Beisetzung zusätzlicher Leichen – respektloser kann man schwerlich mit toten Gegnern verfahren. Zumindest ließ die staatliche Reglementierung des Gedenkens im Laufe der Zeit gewisse Spielräume zu. So wurde 1913 nach Recherchen zum tatsächlichen Begräbnisort Blums von einer kleinen Gruppe um Professor Wilhelm Arthur Hammer eine bescheidene Gedenktafel auf dem Friedhof aufgestellt, freilich nach kurzer Zeit von Unbekannten schwer beschädigt. Selbst eine dezente Form des Gedenkens generierte offenbar feindliche Reaktionen. Erst der Sturz der Monarchie 1918 erlaubte ein öffentliches Gedenken vor Ort, das umso notwendiger schien, als der Friedhof in einen Park umgewandelt werden sollte. Am 9. November 1923 wurde auf dem ehemaligen Währinger Friedhof ein Gedenkstein für die dort begrabenen Revolutionäre Alfred Becher, Robert Blum, Hermann Jellinek und Wenzel Messenhauser in Anwesenheit des Wiener Bürgermeisters, der Stadträte und zahlreicher weiterer Vertreter der Kommunalverwaltungen feierlich eingeweiht. Nahe dem Hinrichtungsort in der Brigittenau trug bereits seit 1919 eine Gasse Robert Blums Namen. Dies gilt gegenwärtig auch für die örtliche Ganztagesvolksschule. Das Gedenken an Robert Blum geht natürlich nicht nur in Wien weit über seinen Sterbe- und Grabort hinaus. Schon 1849 entstand im hessischen Petterweil ein Denkmal, das zwischen 1852 und 1895 abgebaut und versteckt werden musste. Allein in Thüringen finden sich zahlreiche nach dem Revolutionär benannte Straßen, so in Apolda, Gera, Gotha, Jena, Nordhausen, Rudolstadt und Weimar. Seit 2020 trägt ein Saal im Berliner Schloss Bellevue seinen Namen, das Erscheinen einer Robert-Blum-Briefmarke 2021 war dem deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier eine Rede wert.

Wenn man beim historischen Ort des 9. November 1848 von einer „klassischen“ – wenn auch erst spät umgesetzten – Markierung sprechen kann, präsentiert sich die Situation im Fall der deutschen Novemberrevolution von 1918 weitaus komplexer. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass eine Frage nach den charakteristischen Orten der Novemberrevolution nicht so leicht zu beantworten ist wie man annehmen möchte – gibt es doch derer viele. Jede Frage nach Nennung eines oder auch nur einiger weniger Orte der Novemberrevolution kann deshalb zwangsläufig nur durch scharfe Reduktion beantwortet werden. Selbstverständlich sind deshalb zahlreiche Revolutionsorte, wiewohl für die Ereignisse von Belang, heutzutage weitgehend vergessen.

Ein ganz wesentlicher „Ort“ wenn nicht des 9. Novembers 1918 so doch der Revolution, ist physisch gänzlich verschwunden – die Kriegsschiffe, auf denen der Aufstand der Matrosen als Initialzündung der Revolution seinen Anfang nahm. Anders als etwa in Russland, wo der in seiner Bedeutung ikonographisch zentrale, ja überhöhte Kreuzer Aurora bis heute erhalten wurde,[8] ist von der kaiserlichen Flotte nichts geblieben. Der Ausgangsort des kollektiven Ungehorsams, das Großlinienschiff „Thüringen“, wurde an Frankreich ausgeliefert, diente zunächst als Zielschiff und wurde schließlich in den Jahren 1923 bis 1933 ausgeschlachtet.[9] An Land sind die Orte historischer Ereignisse zwar erhalten geblieben, haben aber eigene „Konjunkturen“ durchlaufen. Höchst wechselhaft gestaltete sich etwa das Gedenken in der Revolutionsstadt Kiel, wo weite Teile der Bürgerschaft und des politischen Spektrums sich jahrzehntelang schwer taten mit einem ehrenden Gedenken für die „Meuterer“. Inzwischen kann man jedoch von einer deutlich breiteren und mehrheitlich positiv besetzten Verankerung im öffentlichen Gedächtnis sprechen.

Fragt man nach den symbolbehafteten Orten der Novemberrevolution, über die ein gewisser Konsens herrscht, dann richtet sich der erinnerungspolitische Blick meistens auf die Reichshauptstadt Berlin. Doch selbst dies bringt keine Eindeutigkeit, denn tief gespalten präsentierten sich lange Zeit die Rezeption und das Gedenken. Die doppelte Ausrufung der Republik am 9. November 1918 an prominenter Stelle – im Reichstagsgebäude durch Philipp Scheidemann und im Stadtschloss durch Karl Liebknecht – war dafür nur Anlass, nicht aber Ursache. Diese war weit mehr differierenden Deutungen der Ereignisse geschuldet. In der Weimarer Republik für die Mehrheit des politischen Spektrums nicht anknüpfungsfähig, stand die Ausrufung der sozialistischen Republik am Stadtschloss der Hohenzollern immerhin vier Jahrzehnte lang im Fokus des Gedenkens in der DDR – nicht nur wegen seiner symbolischen Bedeutung, hatte doch Liebknecht den Sturz der Monarchie an prominenter Stelle unübersehbar demonstriert. Noch wichtiger war, dass der sozialistische Staat sich als Vollender der Revolution von 1918 präsentieren wollte und zugleich an den kommunistischen Märtyrerkult um die von Freikorpsleuten ermordeten Arbeiterführer Liebknecht und Luxemburg anknüpfte. Als man das Stadtschloss in einer „damnatio memoriae“ 1950 zerstörte, wurde unter anderem das Portal IV, das als Ort der Liebknechtschen Republikverkündung galt, bewahrt und baulich in das neue Staatsratsgebäude integriert. Der „Arbeiter-und-Bauern-Staat“ ist inzwischen selbst Geschichte, doch dank der umstrittenen Rekonstruktion der Fassade des Stadtschlosses ist der historische Ort von Liebknechts Proklamation heute in direkter Nachbarschaft gleichsam doppelt – wenn auch nicht originalgetreu – erhalten. Er spielt jedoch im Gedenken keine prominente Rolle mehr.

Die Ausrufung der Republik durch Philipp Scheidemann vom Balkon des Reichstagsgebäudes, die Liebknechts Proklamation zuvorkam, wird mitunter in ihrer historischen Bedeutung kontrovers diskutiert. Umstritten blieben auch die genauen Worte Scheidemanns, kursierten doch abweichende Versionen. Tatsächlich aber war das Ereignis ebenso zukunftsweisend wie einschneidend. Ein Zurück zu irgendeiner Form von Monarchie war daraufhin kaum möglich. Für die Geburt der ersten deutschen Demokratie und damit für die Geschichte der Demokratie auf deutschem Boden überhaupt kann das Ereignis – auch wenn es in erster Linie symbolhaft und nicht rechtlich verbindend oder konstituierend war – deshalb kaum überschätzt werden. Nachdem die Weimarer Republik lange Jahre in der Erinnerung und gedenkpolitischen Würdigung stiefmütterlich behandelt worden ist, zollen ihr gegenwärtig und hoffentlich auf Dauer nicht nur Wissenschaft, sondern auch Politik und Öffentlichkeit mehr Achtung. Am 9. November 2018 ließen es sich führende Politiker der Bundesrepublik nicht nehmen, an historischer Stelle des Ereignisses zu gedenken. Das Reichstagsgebäude als ein Ort, der mit für die deutsche Geschichte bedeutsamen Ereignissen gleichsam überfrachtet ist, verwehrt freilich, ein einzelnes dominant herauszustellen.

Der Versuch von Adolf Hitler und Erich Ludendorff, die junge deutsche Republik am 8. November 1923 von München aus zu stürzen, scheiterte bekanntlich am Folgetag spektakulär mit einer Schießerei vor der Feldherrnhalle. Der Beginn des Putsches im Bürgerbräukeller wie auch der Marsch zur Halle waren zwischen 1933 und 1945 zentrale Gedenkelemente der NSDAP. Während der Bürgerbräukeller seit Ende der 1970er Jahre nicht mehr existiert, wurde die Feldherrnhalle nach den im letzten Kriegsjahr erlittenen schweren Bombenschäden in den 1950ern instandgesetzt, 1962 folgte eine gründliche Gesamtrestaurierung. Seit Anfang der 1990er wurden verstärkt Forderungen an den Münchener Stadtrat herangetragen, an der Feldherrnhalle eine Gedenktafel für die vier bei der Abwehr der Putschisten erschossenen Polizisten anzubringen. Einhellig vom Stadtrat unterstützt, scheiterte der Vorstoß auf Ministerebene, so dass im November 1994 lediglich der Einbau einer Bodenplatte möglich war. Die bescheidene Installation blieb weitgehend unbeachtet. Erst 16 Jahre später billigte die Landesregierung die Installation einer Gedenktafel an der Fassade der nahen Residenz, die am 9. November 2010 enthüllt wurde. Der gescheiterte Hitlerputsch ist – anders als etwa der Justizmord an Robert Blum – ein Ereignis des 9. November, das im öffentlichen Bewusstsein auch der breiteren Öffentlichkeit zumindest rudimentär präsent ist. In den bundesweiten Gedenkveranstaltungen spielt es derweil keine größere Rolle, könnte aber als Beispiel dafür dienen, wie die Demokratie erfolgreich verteidigt wurde. Als Warnung verstanden werden sollte der Umstand, dass das historische Areal in München auch von den neuen Feinden der Demokratie mit altem Gedankengut keineswegs völlig aufgegeben wurde. Im Gedenken an Reinhold Elstner, der sich aus Protest gegen die Ausstellung zu den Verbrechen der deutschen Wehrmacht 1995 vor der Feldherrnhalle anzündete und an den Folgen verstarb, fanden wiederholt am nahegelegenen Max-Joseph-Platz „Mahnwachen“ Rechtsradikaler statt, so auch im Jahr 2021.

Für die Pogrome des Jahres 1938 – neben dem Fall der Berliner Mauer 1989 das in der deutschen Erinnerungskultur dominante Ereignis an einem 9. November – ist es ebenso unmöglich einen zentralen Ort des Gedenkens zu bestimmen, wie für den 9. November 1918. Die staatlich orchestrierte Orgie der Gewalt und Zerstörung umfasste das gesamte damalige Reichsgebiet. Die Folgen waren entsprechend katastrophal. Dies betraf vor allem das Ausmaß menschlichen Leidens – zu den 91 während der Pogrome direkt ermordeten Personen kamen weit über 1.000, die unter dem Eindruck der Umstände keinen anderen Ausweg mehr sahen als den Selbstmord, oder an den Folgen ihrer Einlieferung in ein Konzentrationslager zugrunde gingen. Groß war auch die angerichtete Verwüstung – gut 7.500 geplünderte und beschädigte Geschäfte, zahllose Wohnungen, Friedhöfe, deutsch-jüdische Gemeindeeinrichtungen. Dominant in Erinnerung und Gedenken waren lange Zeit die verwüsteten, vielfach auch in Brand gesteckten Synagogen. Kaum ein Gebetshaus, das verschont blieb. Der Angriff richtete sich jedoch ungeachtet des Glaubens gegen jeden Aspekt deutsch-jüdischen Lebens und war symbolhaft für das Ziel, eine jahrhundertlange, vielfältige Tradition vollkommen zu vernichten. Zunächst durch Ausgrenzung und den Zwang ins Exil, wenige Jahre später mittels Deportation und Völkermord.

Gedenken an das zu Recht als Ankündigung des Holocaust verstandene Ereignis findet denn auch jedes Jahr an zahllosen Orten statt. Mitunter als Fokuspunkt dienen Standorte von 1938 geschändeten oder niedergebrannten Synagogen wie die Berliner Synagoge in der Oranienburger Straße. Das Motto „Jüdisch. Berlinerisch. Mittendrin“ kann als Sieg über das Ziel der Nationalsozialisten betrachtet werden, jüdisches Leben in Deutschland für immer unmöglich zu machen. Wesentliche Elemente des Gedenkens sind zudem die Veranstaltungen der Gedenkstätten in den ehemaligen Konzentrationslagern Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen. Eine besondere Installation befindet sich seit dem Jahr 2000 im gotischen Saal des Alten Rathauses München – was ungewöhnlich ist, weil sie einen reinen Täterort markiert. Dort fand am Abend des 9. November anlässlich des 15. Jahrestages des Hitlerputsches eine NSDAP-Feier statt, auf der Joseph Goebbels die dramatische Ausweitung der bereits angelaufenen Terrorwelle vorbereitete. Eine Replik der nur zu besonderen Veranstaltungen für die Öffentlichkeit zugänglichen Tafel findet sich seit 2009 an der Eingangsfassade des Gebäudes. Geographisch besonders präsent und nahezu allgegenwärtiges dezentrales Gedenkelement sind die in vielen Städten ins Pflaster eingelassenen Stolpersteine für jüdische Bürger und andere Opfer des Nationalsozialismus – gegenwärtig (April 2022) sind dies ca. 70.000 in Deutschland. Mehrheitlich handelt es sich bei den darauf Genannten nicht um im Zusammenhang mit dem 9. November 1938 ums Leben gekommene Männer und Frauen. Doch stehen die Novemberpogrome im öffentlichen Bewusstsein derart synonym für die NS-Verbrechen, dass es angemessen ist, an Jahrestagen die verlegten Steine zu putzen oder zu markieren. Es ist wohl nicht zuletzt die große geographische und erinnerungskulturelle Spannbreite, die das Gedenken an den November 1938 nicht nur als staatlich und kommunal organisierte Veranstaltungen, sondern auch durch gelebtes bürgerschaftliches Engagement am Leben erhalten.

Mit etwas Glück hätte der 9. November 1938 auch aus anderem Grund in die deutsche Erinnerungs- und Demokratiegeschichte eingehen können – kam doch Maurice Bavaud an diesem Tag Hitler im Zuge der Feierlichkeiten im Andenken an den gescheiterten Putsch von 1923 relativ nahe. Der Schweizer plante, den Diktator zu erschießen. Unglückliche Umstände verhinderten bei dieser wie anderen Gelegenheiten den Anschlag. Zufällig verhaftet, wurde Bavaud zum Tode verurteilt und am 14. Mai 1941 enthauptet. Heute erinnert eine Stele im schweizerischen Hauterive an den gescheiterten Attentäter. Der Deutsche Georg Elser kam dem Ziel, Hitler zu töten, noch näher. Auch er plante, sich die Feierlichkeiten im Andenken an 1923 zunutze zu machen. Die im Bürgerbräukeller gelegte Bombe verfehlte am 8. November 1939 nur knapp ihr Ziel. Elser bezahlte seine mutige, einsame Tat mit dem Leben. Lange Zeit wenig gewürdigt, nimmt er heute zu Recht einen Ehrenplatz im Kreis derer ein, die gegen die NS-Diktatur Widerstand geleistet haben. 1989 wurde auf dem Gelände des ehemaligen Bürgerbräukellers ein Bodendenkmal eingebracht. Erst nach jahrelangen Debatten gelang es 1997 in München, die Benennung eines Platzes nach dem Attentäter durchzusetzen. 2009 wurde dort eine permanente Kunstinstallation errichtet. Auch wenn Elser scheiterte und das Andenken sich an wenigen Orten festmacht, ist es angemessen, seinen Beitrag in das Gedenken einzubeziehen. Elser steht dafür, dass Widerstand auch für den Einzelnen möglich ist, und dass es einige wenige Deutsche gab, die den Kampf gegen die Diktatur aufnahmen. 

Während es für den 9. November 1938, geschweige denn frühere November-Ereignisse bestenfalls noch einige wenige lebende Zeitzeugen gibt, hat etwa die Hälfte der heute lebenden Deutschen die Öffnung der Berliner Mauer am 9. November 1989 bewusst miterlebt. Nicht nur deshalb, auch als Ereignis, das sowohl für den sich infolge der stetig zunehmenden Massenproteste in der DDR abzeichnenden Sturz der SED-Diktatur als auch als wesentlicher Schritt auf dem Weg zum Zusammenschluss beider deutscher Staaten steht, ist das Datum zentraler Bestandteil der Veranstaltungen an jedem 9. November. Wohl ist die Zahl der Ostdeutschen beträchtlich, die mit einer gewissen Wehmut an Elemente des verlorenen DDR-Alltags zurückdenken. Das Grenzregime vermisst hingegen nur eine kleine Minderheit. Wie der 9. November 1918 war der von 1989 ein Tag einer Revolution, doch diese rechnete mit dem Symbol des Staates gegen die sie sich richtete weit radikaler ab. Während das Reichstagsgebäude von den Demokraten übernommen und der Bestand des Stadtschlosses in Berlin von den Revolutionären nicht ernsthaft bedroht wurde, war das physische Verschwinden der Mauer ein Anliegen, das im Zuge des politischen Umbruchs von vielen geteilt worden ist. Binnen weniger Jahre waren weite Teile der Grenzanlagen verschwunden. Mitunter schien, es gälte zugleich, die Spuren der Teilung aus dem Stadtbild und damit auch dem Bewusstsein auszumerzen, ohne dabei die erinnerungskulturelle Relevanz der Relikte zu berücksichtigen. Wohl wird der deutsch-deutschen Grenze, ihrer Opfer und ihrem Fall auch außerhalb Berlins gedacht. Die Gedenkorte, deren Inhalte um die Mauer und ihre Überwindung kreisten, konzentrierten sich aber auch angesichts der dominierenden Rolle der Ereignisse des 9. November 1989 folgerichtig auf Berlin. 2006 wurde vom Berliner Senat ein Gesamtkonzept zum Umgang mit der Mauer beschlossen, das in nur fünf Jahren umgesetzt werden konnte und bereits vorhandene mit noch zu schaffenden Elementen verband. Inzwischen verfügt die Hauptstadt über ein breites Angebot an Erinnerungs- und Gedenkorten, bleibt der Grenzverlauf durch den „Mauerweg“ nachvollziehbar, sind moderne Medien einbezogen. Das Angebot richtet sich an die Einwohner wie an das Millionenpublikum von Touristen, und ist inzwischen vollkommen in das Informationsangebot der Stadt integriert. Wesentliche Elemente sind das Brandenburger Tor, der Potsdamer Platz, der Checkpoint Charlie – wo mitunter die Erinnerung an die historischen Ereignisse in Kommerztheater abzugleiten drohte – sowie die East Side Gallery und die Mauerreste in der Niederkirchnerstraße. Besonders aber sticht die Gedenkstätte Berliner Mauer in der Bernauer Straße hervor, die mit einem reichen Veranstaltungsprogramm aufwartet. Der „Tränenpalast“ ist weiteres prominentes Element.

Dass das Gedenken an den Fall der Mauer auch in den kommenden Jahren im Rahmen der Veranstaltungen zum 9. November eine zentrale Rolle spielen wird, kann zumindest mittelfristig als gesichert gelten. Wohl werden die Folgen der Wiedervereinigung westlich und östlich der ehemaligen Grenze partiell unterschiedlich bewertet. Doch dass es sich beim 9. November 1989 um einen historischen Glücksfall handelt, ermöglicht durch den Mut vieler DDR-Bürger wie auch die Einsicht der Behörden und Staatsführung, auf einen gewaltsamen Machterhalt in diesem Moment zu verzichten, ist verbindender Konsens.

Der 9. November als Datum ist für sich genommen bereits ein (symbolischer) Erinnerungsort, der mit vielfältigen Inhalten aufgeladen ist. Schaut man auf die geographischen Erinnerungsorte, bietet sich ein ähnlich diffuses Bild. Vor diesem Hintergrund erscheint es unmöglich, einen „verbindlichen“ Ort zu bestimmen, der dem Gedenken an die Ereignisse dieses Tages gleichermaßen gerecht werden kann. Wohl nicht zuletzt deshalb gibt es gegenwärtig lediglich im sächsischen Naunhof eine „Straße des 9. November“ und in Berlin einen „Platz des 9. November 1989“ an der Bornholmer Straße, wobei letzterer offenkundig nur einem Gedenkanlass gewidmet ist. In Lörrach wagt eine von Bernd Goering entworfene Skulptur immerhin den Versuch, die Daten 1918, 1938 und 1989 künstlerisch zu vereinen.

Wohl lassen sich Städte bestimmen, welche wesentliche Ereignisorte mit Anknüpfungspunkten mehrerer Jubiläen zum „Schicksalstag der Deutschen“ auf sich vereinen. Zu nennen wären München (1918, 1923, 1938 und 1939) und Berlin (1918, 1938 und 1989). Zudem finden sich in ihnen gewachsene Gedenkorte und -traditionen. Doch scheint unmöglich, einen zentralen Ort zu bestimmen oder gar neu zu schaffen, der bundesweit als Erinnerungsort für ein derart komplexes Gedenken dienen und langfristig eine lebensfähige Tradition entwickeln kann. Vorstellbar wäre jedoch – vielleicht in Berlin, etwa zwischen Centrum Judaicum, Reichstagsgebäude und Bernauer Straße – weniger einen Gedenk-, als vielmehr einen Kommunikationsort zu schaffen. Dieser könnte versuchen, sich mit dem 9. November in pädagogisch-informativer Hinsicht zu befassen. Wichtig wäre jedoch auch eine Annäherung in künstlerischer Art und Weise. Zugleich könnte er als Ort dienen, der sich mit Fragen des Gedenkens an sich auseinandersetzt, wie es sich gewandelt hat und noch wandeln könnte, und an dem auch nach neuen Formen und Wegen des Gedenkens gefragt, diese erprobt und in einen zivilgesellschaftlichen Diskussionsprozess gebracht werden.

Eventuell ist dem 9. November am besten durch ein dezentrales Gedenken ähnlich den individuellen Aktionen an den lokalen Stolpersteinen gedient – ein Gedenken, das freilich nach Möglichkeit durch das Mit-Denken an andere Ereignisse an einem 9. November erweitert werden sollte.