Landesväter. Die Weimarer Republik in den Regionen


Teilbereich Regionalgeschichte


Die öffentliche Wahrnehmung und Erinnerung an die Weimarer Republik blickten lange Zeit vor allem auf das Scheitern der ersten deutschen Demokratie. Dies hat sich zunehmend geändert, sodass die Möglichkeiten des Aufbruchs 1918/19 heute deutlich ausgewogener beurteilt werden. Weiterhin liegt jedoch der Fokus auf den Ereignissen auf Reichsebene, auf der Hauptstadt Berlin und wenigen Metropolen. Die Erinnerung an die Regionalgeschichte bleibt derweil oft rudimentär. Dabei war die Republik gleich dem Kaiserreich, der Bundesrepublik und dem geeinten Deutschland ein stark föderalistisch geprägter Staat. Das Projekt „Weimar in den Regionen“, im Sommer 2021 initiiert durch die neu gegründete „Gesellschaft zur Erforschung der Demokratiegeschichte“ (GEDG), zielt darauf, diesen Umstand über die Biographien landespolitischer Akteure stärker ins Bewusstsein zu rufen. Wer waren die rund 200 Männer – denn es handelte sich ausschließlich um solche – die zwischen 1918 und 1933 als Ministerpräsidenten der Länder, in den Provinzen des Landes Preußens als Oberpräsidenten und Landeshauptmänner das Geschehen prägten? Waren die föderalen Akteure ein Bollwerk der Demokratie? Wie viele waren im Gegenteil eingefleischte Feinde der neuen Ordnung? Wie prägten sie in ihrem Einflussbereich die Weimarer Jahre?

Anhand von Biogrammen und repräsentativen Episoden blickt das Projekt auf Vorgeschichte und Wirkungsmöglichkeiten regionaler Entscheidungsträger, aber auch auf ihr Nachleben über den Systemumbruch 1933 hinaus. Dabei nimmt es zugleich Sonderfälle wie die führenden Personen lokaler räterepublikanischer Bestrebungen und separatistischer Abspaltungsbemühungen in den Fokus. Die Biogramme sollen in Kooperation mit den deutschen Landtagen der Öffentlichkeit in den kommenden Jahren mittels mobiler Ausstellungen über einen Medientisch wieder stärker ins Bewusstsein gerufen werden. Die Anreicherung der Darstellungen mit persönlichen Aspekten und genauere Einblicke über ein begleitendes Veranstaltungsprogramm werden die Politiker als Menschen greifbarer machen. Parallel dazu wird eine Webseite, nach Abschluss des Projekts auch eine Lexikon-Printausgabe die Portraits der einflussreichen Landespolitiker einem breiten Publikum zugänglich machen. Erste Ergebnisse konnten bereits auf der Tagung „Föderalismus in der Weimarer Republik. Bollwerk oder Untergrabung der Demokratie“ im Februar 2022 nutzbar gemacht werden.

Das Vorhaben ist explizit als Kooperationsprojekt angelegt: Kolleginnen und Kollegen, die bereits zu regionalen Akteuren geforscht und publiziert haben, sind herzlich eingeladen, an dem Projekt mitzuwirken und dessen Publikationsmöglichkeiten zu nutzen.

Bereits der Blick auf einen kleinen Ausschnitt des Reichsgebietes – die heutigen Länder Sachsen und Thüringen – offenbart ein breites Spektrum von Biographien. Es reichte von linkssozialistischen Politikern, die mit einem Rätesystem liebäugelten, über sozialdemokratische und bürgerliche Herzensrepublikaner bis hin zu rechtskonservativen Akteuren, die bedenkenlos mit Republikfeinden paktierten. Der letzte thüringische Regierungschef vor dem Machtantritt der NSDAP im Deutschen Reich, Fritz Sauckel, war gar Gauleiter der „Nazipartei“. Zielstrebig tätig bei der Zerstörung der Republik, bezeichnete man ihn später überdies wegen seiner Rolle im NS-Zwangsarbeitereinsatz als den „größten und grausamsten Sklaventreiber seit den ägyptischen Pharaonen“ – was wohl den ägyptischen Monarchen, nicht aber Fritz Sauckel Unrecht tat.

Die Politik der Weimarer Jahre war von einem häufigen Wechsel der Kabinette und Regierungschefs gekennzeichnet. Zwar gestaltete sich die Landespolitik stabiler als in Berlin, wo sich ein Dutzend Reichskanzler abwechselte. Doch fünf bis sieben Ministerpräsidenten in anderthalb Jahrzehnten waren für ein Land vielfach die Regel. Personell stabile Zustände wie im Freistaat Hessen oder Volksstaat Lippe mit nur zwei Regierungschefs in den Weimarer Jahren blieben eine Ausnahme.

Zwei mitteldeutsche Beispiele, biographisch über Strecken parallel verlaufend, doch an anderer Stelle weit divergierend, mögen hier beispielhaft stehen.

Das Land Thüringen entstand am 1. Mai 1920 aus sieben Einzelstaaten. Seine Geburt war nur möglich durch den Sturz der lokalen Monarchien. Thüringens erster Regierungschef, Arnold Paulssen, wurde 1864 geboren und wuchs in einer großbürgerlichen Familie auf. Der studierte Jurist arbeitete zeitweilig als Gerichtsassessor und Richter. Ab 1895 im Verwaltungs- und politischen Staatsdienst für den thüringischen Kleinstaat Sachsen-Weimar-Eisenach, machte er sich einen Namen durch seine liberale Politik. Langjährige politische und administrative Erfahrung prädestinierten ihn nach dem revolutionären Umbruch 1918 als prominenten Vertreter der bürgerlich-liberalen DDP. Zusammen mit dem Sozialdemokraten August Baudert bildete er eine Doppelspitze als Regierungschefs von Sachsen-Weimar-Eisenach. Die Geschichte war nicht frei von Ironie: Ein Vierteljahrhundert zuvor hatte Gerichtsassessor Paulssen an Prozessen gegen Baudert mitgewirkt, nachdem dieser in Folge seiner Tätigkeit als Zeitungsredakteur der Beleidigung bezichtigt worden war. Nun trieben sie gemeinsam die thüringische Einigung zielstrebig voran. Paulssen übernahm zudem den Vorsitz in dem als Vorläufer einer Landesregierung fungierenden Staatsrat von Thüringen. Als am 13. März 1920 rechte Politiker und Militärs um Wolfgang Kapp und Walther Freiherr von Lüttwitz in Berlin putschten, schloss sich die Weimarer Garnison dem Umsturzversuch an. Arnold Paulssen und August Baudert verweigerten sich standhaft jeder Kooperation mit den Putschisten, trotzdem man sie zeitweilig unter Arrest stellte. Paulssens Privatwohnung wurde zum konspirativen Treff der Politiker, die dem Umsturzversuch die Stirn boten. Mangelnde Unterstützung in Teilen des Bürgertums, vor allem aber der reichsweite Generalstreik und der dezentral organisierte bewaffnete Widerstand der Aktivisten der Arbeiterparteien führten binnen weniger Tage zum Zusammenbruch des Putsches auch in Weimar.

In Folge der ersten gesamtthüringischen Landtagswahl vom 20. Juni übernahm Paulssen vom November 1920 bis Oktober 1921 den Posten des Ministers für Volksbildung und Justiz wie auch den Vorsitz im Staatsministerium des Ersten Landtages von Thüringen, was in etwa dem heutigen Ministerpräsidentenamt entsprach. Die erste demokratisch gewählte thüringische Regierung – ein Minderheitskabinett der MSPD und DDP unter Tolerierung der linkssozialistischen USPD – litt von vorneherein an divergierenden Zielen der Koalitionspartner. Auch wegen der Schwäche des Kabinetts konnten einschneidende Reformen vorbereitet, aber noch nicht umgesetzt werden. Die Regierung Paulssen machte aber Fortschritte bei der Integration der ehemaligen thüringischen Kleinstaaten. Die Ablehnung des Grundsteuergesetzes durch einen Teil der linken Abgeordneten und die Vertreter der Rechtsparteien führte zum Rücktritt der Regierung und Auflösung des Landtags im Juli 1921. Paulssen trat in den Folgejahren nur wenig in Erscheinung. Aber 1927 kam ihm wieder eine prominente Rolle zu.

Nach den Wahlen vom 30. Januar 1927 geriet die DDP angesichts der Mehrheitsverhältnisse zum „Zünglein an der Waage“, obwohl sie nur zwei Abgeordnete stellte. Im April 1927 übernahm Paulssen das Ministerium für Inneres und Wirtschaft und den stellvertretenden Vorsitz des Staatsministeriums der bürgerlichen Minderheitsregierung des Vierten Thüringer Landtages unter Richard Leutheußer (DVP). Infolge des Regierungsrücktritts und derer Umbildung vom August/November 1928 wechselte er die Ressorts und wurde erneut Vorsitzender des Staatsministeriums sowie Wirtschafts- und Volksbildungsminister; ab Mai 1929 zusätzlich Finanzminister. Paulssen behielt diese Funktionen bis zur Regierungsbildung des Fünften Landtages von Thüringen im Januar 1930. Infolge der Schwäche der regierenden Parteien waren die Auswirkungen der zweiten Amtszeit Paulssens begrenzt. Am 23. Januar 1930 wechselte er in den Wartestand; ab 1. März 1930 war er Ruheständler. Politisch zusehends ins Abseits geraten, starb Arnold Paulssen am 19. März 1942 in Weimar. Weder ein Denkmal noch ein Straßenname erinnert heute an den ersten „Landes-“ und bedeutsamen „Gründungsvater“ Thüringens.

Wilhelm Bünger, Jahrgang 1870, entstammte wie Paulssen einer großbürgerlichen Familie, beide waren in der preußischen Provinz Sachsen gebürtig. Auch Bünger war studierter Jurist. Anders als der spätere thüringische Regierungschef blieb er seinem Beruf treu, zuletzt als Kammergerichtsrat, ab 1919 als Reichsanwalt beim Reichsgericht in Leipzig. Bünger schloss sich der rechtsbürgerlichen Deutschen Volkspartei an. Wenngleich bereit die Verfassung zu akzeptieren und zu respektieren, stand er der Republik distanziert gegenüber. Im sächsischen Landtag, wo er sich ab 1920 als juristischer Fachmann seiner Partei einen Namen machte, vertrat Bünger eine sachorientierte Linie, die mitunter auch bereit war, mit dem politischen Gegner zu kooperieren. Allerdings bewies er große Toleranz gegenüber rechtslastigen Paramilitärs. Ab Anfang 1924 Justizminister in einem Kabinett der großen Koalition aus SPD, DDP und DVP, betrieb Bünger eine Politik, die zu Verbesserungen im Strafvollzug führte. Seine Einstellungspolitik richtete sich nach fachlicher Eignung und dem Dienstalter – fragte aber kaum nach der Treue der Beamten zur Republik. 1927 aus der Regierung ausgeschieden, berief Ministerpräsident Max Heldt Bünger im Februar 1929 zum Volksbildungsminister. Nach zwei gescheiterten Wahlgängen im Landtag akzeptierten die DVP und andere bürgerliche Parteien am 25. Juni 1929 die Unterstützung der NSDAP, um den ersten Nichtsozialdemokraten als sächsischen Ministerpräsidenten durchzusetzen. In einer hoch umstrittenen Abstimmung wurde Bünger gewählt. Unter Eindruck der Weltwirtschaftskrise betrieb sein Kabinett – auch weiterhin auf Tolerierung der Nationalsozialisten angewiesen – einen harten Sparkurs, der sozialpolitische Maßnahmen ganz besonders hart traf. Mehrere Misstrauensvoten, die nur knapp scheiterten, demonstrierten die Schwäche der Regierung. Die Tolerierung durch die Nationalsozialisten erwies sich als wenig belastbar, bereits am 18. Februar 1930 scheiterte das Kabinett an einem Misstrauensvotum der Kommunisten und der NSDAP. Bünger wechselte im Sommer 1931 ins Reichsgericht und beendete seine politische Karriere. Seinen letzten prominenten Auftritt hatte er als Vorsitzender Richter im Reichstagsbrandprozess. Wiewohl persönlich maßvoll, machte er sich zum Handlanger der NS-Regierung. Die Verurteilung des mutmaßlichen Brandstifters Marinus van der Lubbe zum Tode – nach einem Gesetz, das erst nach der Straftat geschaffen worden war – sprach rechtsstaatlichen Grundsätzen Hohn. Gesundheitlich angegriffen ging Bünger im März 1936 in Ruhestand und verstarb ein Jahr darauf in Leipzig.

Paulssen und Bünger sahen sich vor ähnliche Herausforderungen gestellt: instabile und häufig wechselnde Mehrheiten in den Kabinetten, große wirtschaftliche Herausforderungen und die Bedrohung der Republik durch gewaltbereite Gegner, sei es offen oder verdeckt. In den ersten Jahren erwies sich der demokratische Staat auf Reichs- wie Landesebene durchaus als wehrhaft. Die Republik krankte jedoch weiterhin daran, dass erhebliche Teile der Bevölkerung sie bestenfalls tolerierten, aber nicht willens waren, entschieden für sie einzutreten. Insbesondere die Bereitschaft von Teilen des bürgerlichen politischen Spektrums, sich der erstarkenden NSDAP als vermeintlich kontrollierbarem Bündnispartner zu bedienen, trug dazu bei, die Republik schrittweise auszuhöhlen. Wie Bünger sollten Vertreter einer rein ,pragmatischen‘ Politik am Ende zu Handlangern der Diktatur werden – deren weiteren Kurs sie nicht mehr zu steuern vermochten.